Gruß in den Advent
Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes,
der Monat November, von vielen gefürchtet, von wenigen geliebt, geht seinem Ende
entgegen. Und schon bald beginnt das neue Kirchenjahr am 1. Advent. Ich nehme das
zum Anlass für einen Gruß in diesen Wochen, deren Gedenktage zugleich vom
Abschiednehmen geprägt waren, aber auch schon von voradventlicher Erwartung
getragen sind...
Passend für vieles – in unserem Leben, in unserer Gesellschaft, in unserer Kirche – ja,
und auch in unserem Frauenbund und der Patientenbücherei als unserem sozialen
Projekt schicke ich Ihnen diesmal einen Impuls zu einem besonderen Kirchenlied:
"Vertraut den neuen Wegen". Seien Sie gespannt, was es damit auf sich hat:
Wir schreiben das aufregende Jahr 1989: Klaus-Peter Hertzsch, emeritierter
Theologieprofessor in Jena, wird im Spätsommer von einem befreundeten
thüringischen Pfarrer sehr kurzfristig gebeten, ein Lied zur bevorstehenden Hochzeit
seiner Tochter in Eisenach zu schreiben. Hertzsch kommt der Bitte nach und
berücksichtigt auch den Wunsch des Brautvaters, dem Text eine bekannte Melodie zu
unterlegen. Noch am Abend vor der Trauung seines Patenkindes textet er drei
Liedstrophen, zu singen nach der altvertrauten Melodie "Du meine Seele, singe". Das
Ergebnis finden wir heute in unserem Gesangbuch unter der Nummer 395: "Vertraut
den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist".
Schauen wir zunächst auf den Werdegang des Autors: Klaus-Peter Hertzsch wurde
1930 in Jena geboren und wuchs in einer kinderreichen Pfarrersfamilie in Eisenach auf.
Nach der Schulzeit an dem Gymnasium, das einst auch Martin Luther und Johann
Sebastian Bach besucht hatten, studierte er in Jena Theologie an der Universität, an
der auch sein Vater nach dem Krieg einen theologischen Lehrstuhl bekleidete. Nach
einem zweijährigen Stipendiums-Studienaufenthalt in Zürich kehrte Hertzsch in die
DDR zurück, besuchte das Predigerseminar in Eisenach und wurde 1957 zum Pfarrer
ordiniert. Neben der seelsorgerlichen Arbeit auf einer dörflichen Pfarrstelle war
Hertzsch lange Jahre Studentenpfarrer in Jena und leitete die Berliner
Geschäftsstelle der Studentengemeinden der DDR. Hertzsch, der in der Jugend durch
das politische Engagement seines Vaters und dessen Kampf gegen die "Deutschen
Christen" in der Zeit des Nationalsozialismus geprägt worden war, suchte selbst den
Dialog mit den Vertretern der marxistischen Ideologie. In seiner Promotion setzte er
sich 1967 mit Bertolt Brechts Ethik und seiner Bedeutung für die christliche
Rechtfertigungslehre auseinander; die Drucklegung seiner Arbeit wurde
staatlicherseits verhindert. Seit 1969 lehrte Hertzsch wie zuvor sein Vater Praktische
Theologie an der Universität Jena und gehörte 20 Jahre lang der Synode des Bunds
der Evangelischen Kirchen in der DDR bis zu deren Auflösung 1990 an. 2015 starb der
Theologe in seiner Geburtsstadt.
Zurück zum Lied "Vertraut den neuen Wegen":
1. Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist,
weil Leben heißt: sich regen, weil Leben wandern heißt.
Seit leuchtend Gottes Bogen am hohen Himmel stand,
sind Menschen ausgezogen in das gelobte Land.
2. Vertraut den neuen Wegen und wandert in die Zeit!
Gott will, dass ihr ein Segen für seine Erde seid.
Der uns in frühen Zeiten das Leben eingehaucht,
der wird uns dahin leiten, wo er uns will und braucht.
3. Vertraut den neuen Wegen, auf die uns Gott gesandt!
Er selbst kommt uns entgegen. Die Zukunft ist sein Land.
Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit.
Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit.
Das Lied erklang erstmals zur Trauung in der Eisenacher Annenkirche im August 1989
und unterstrich den Predigttext über den Aufbruch Abrahams von Ur in Chaldäa ins
Gelobte Land (1. Mose 12).
Auch wenn man ihm das inhaltlich und formal nicht im Geringsten anmerkt, war der Text
doch unter Zeitdruck und zunächst rein anlassbezogen entstanden. Doch die schnell
noch vervielfältigten Textblätter fanden über die große Schar der Hochzeitsgäste
rasche Verbreitung, auch jenseits der DDR, und so wurde das Lied bald an vielen Orten
gesungen.
Der Grund für seine große Beliebtheit liegt auf der Hand, entsprachen die darin
formulierten Gedanken doch dem Zeitgefühl und der Lebenssituation der Menschen
kurz vor der Wende. Erstmals in einem Gemeindegottesdienst wurde es am Buß- und
Bettag 1989 gesungen, zum Abschluss der Friedensdekade in Jena.
Von hier bis zur Aufnahme ins Evangelische Gesangbuch ging es ungewöhnlich schnell
und auf einem interessanten Weg: Hertzsch hatte das Lied Anfang November 1989
seinem Freund Jürgen Henkys zum 60. Geburtstag geschickt. Der Berliner
Theologieprofessor war Mitglied der Gesangbuchkommission und prägte das neue
Gesangbuch mit Texten und Übersetzungen maßgeblich. Er begegnet uns heute mit
zahlreichen Liedern im Gesangbuch, von denen sich vor allem zwei großer Beliebtheit
erfreuen: "Morgenlicht leuchtet, rein wie am Anfang" (Nr. 455) und "Korn, das in die
Erde, in den Tod versinkt" (Nr. 98).
Henkys nahm das große Potential dieser drei Strophen sofort wahr, brachte sie
umgehend der Gesangbuchkommission zur Kenntnis und empfahl ihre Aufnahme in die
noch schwach vertretene Kategorie der Lieder des vertrauensvollen Aufbruchs unter
Gottes Aufruf und Zusage, der so genannten "Exodus-Lieder". Die Arbeiten am
Gesangbuch waren streng genommen bereits abgeschlossen, doch Henkys konnte die
Kommission von der Wichtigkeit des Liedes überzeugen, und so wurde "Vertraut den
neuen Wegen" als buchstäblich letzter Titel nach Redaktionsschluss noch
aufgenommen.
Die drei Strophen beginnen mit dem identischen Aufruf "Vertraut den neuen
Wegen" und haben deutlich erkennbare Bibelbezüge. In der 1. Strophe steht die
räumliche Dimension des Aufbruchs im Mittelpunkt, während im Folgevers das Leben
als Wandern in der Zeit mit Gottes Geleit und Segensauftrag thematisiert wird.
Hertzsch verdeutlicht sein Verständnis unseres Lebenswegs als Wanderung und
Sendung. Ein Weg, zu dem Gott uns Menschen aufruft, uns dabei entgegenkommt, uns
Türen offenhält und Zukunft möglich macht – adventliche Zusagen für alle Zeiten!
Die Wirkungsgeschichte des Liedes ist höchst bemerkenswert: Über den eigentlichen
privaten Zusammenhang seiner Entstehung hinaus reflektierte es exakt die
zeitgeschichtlichen Stimmungen in den Umbrüchen des Jahres 1989 und ist bis heute
für mannigfaltige Schwellensituationen unseres Lebens aussagekräftig anwendbar. Mit
seiner schwungvollen, fröhlichen Melodie singen wir es bei Taufen, Konfirmationen, zur
Trauung, in Friedens- und Schöpfungsgottesdiensten. Darüber hinaus lassen wir uns für
alle Tage von ihm Mut und Zuversicht zusprechen.
Gehen Sie mit diesem Vertrauen in die kommende Adventszeit und seien Sie sehr
herzlich gegrüßt, Ihre stellvertretende Vorsitzende
Annelen Ottermann
SPÄTSOMMERBRIEF 2024
Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes,
auch wenn die Temperaturen in diesen Wochen immer mal wieder in die Höhe schnellten und wir
uns der Hitze kaum erwehren konnten, so merken wir doch, dass schon etwas
Spätsommerliches in der Luft liegt. Das Licht ist anders geworden, die Frühaufsteher und die
Nachtschwärmer erleben, dass die Tage allmählich wieder kürzer werden. Die Felder sind
abgeerntet, erste Kastanien fallen auf den Rasen, die Äpfel werden reif und die Herbstblumen
beginnen zu blühen.
Carl Zuckmayer
Fülle der Zeit
Des Sommers Mitte, halb schon überschritten,
Umspannt das Land mit Bögen seiner Pracht,
Durch die Augustus donnernd eingeritten -
Sternschnuppenschwärme folgen ihm zur Nacht -
Und all die frühen Früchte sind geerntet,
Das Korn geschnitten und das Gras gemäht.
Die Blumen, die ihr frühlings nennen lerntet,
Sind längst verweht und welkend ausgesät.
Hat je ein Duft wie Abendphlox geduftet?
Blaut' je ein Tag so tief wie Eisenhut?
Sind nun die Sinne wurzelhaft entgruftet
Und trinken, vollmondgleich aus reifster Flut?
Erfüllte Zeit! Wir opfern deiner Fülle,
Die uns mit Nächten ohne Stern umschwarzt.
Doch bald macht uns des Herbstes große Stille
Um so viel reicher, als du ärmer wardst.
aus: Polt-Heinzl, Evelyne, Schmidjell, Christine (Hrsg.):
Sommergedichte, Ditzingen 2023, S. 78
Manche haben den Urlaub bereits hinter sich, bei anderen steht er noch bevor. Und nicht wenige
verreisen gar nicht, weil die eigene Gesundheit oder die von nahen Familienangehörigen das nicht
zulässt. Sie alle grüße ich gleichermaßen herzlich und wünsche den Leichtfüßigen und
Unternehmungslustigen ebenso wie den Beschwerten und Besorgten, beglückende, helle
Momente, Phasen des Aufatmens, Quellen der Hoffnung, Kraftorte und immer einen Grund zur
Freude.
Vielleicht warten Sie längst schon auf ein Monatstreffen auf dem Lerchenberg, denn wir haben
uns seit Mai dort nicht mehr getroffen. Ursprünglich wollten wie Sie schon längst zu einer
Mitgliederversammlung einladen. Doch da der Übergang der Trägerschaft für die
Patientenbücherei vom DEF OV Mainz an die Unimedizin noch nicht erfolgt ist, befindet sich
auch alles Weitere in der Schwebe. Wir sind aber zuversichtlich, dass wir Ihnen recht bald nach
den Gesprächen mit dem künftigen Träger von neuen, hoffentlich guten, Entwicklungen berichten können.
Bleiben Sie behütet und seien Sie herzlich in Spätsommer und Frühherbst gegrüßt, Ihre
stellvertretende Vorsitzende
Annelen Ottermann
BRIEF MAI 2024
Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes,
wir sind nun schon mitten im Mai, dem Monat, der in Poesie und Prosa vielmals bedacht
wurde, und ohne langes Nachdenken fällt uns sicher sofort der eine oder andere Text dazu
ein.
Ich möchte Sie und Euch mit einem besonderen Gedicht bekannt machen oder es wieder in
Erinnerung rufen, weil der Mai ja nicht nur der "Wonnemonat" der Natur und der Liebe ist,
sondern auch die Zeit zweier christlicher Feste: Himmelfahrt und Pfingsten.
An Christi Himmelfahrt wurden wir daran erinnert, dass es an uns ist, in österlicher
Zuversicht dazu beizutragen, dass sich schon im "Hier und Jetzt" Himmel und Erde
berühren und diese Erde bewohnbar für alle zu machen.
Fünfzig Tage nach Ostern feiern wir Pfingsten, und in Erinnerung an das Entstehen der
ersten christlichen Gemeinden wird dieses Fest gerne als "Geburtstag der Kirche"
bezeichnet.
Wer von uns "bei Kirchens" engagiert ist, sei es beruflich oder ehrenamtlich, der weiß, dass
es auch hier "menschelt", und das nicht zu knapp. Denn wo Menschen unterschiedlicher
Prägungen und Interessen zusammenkommen, geht es nicht immer einvernehmlich ab,
stehen allzu oft Kleinlichkeiten, Eitelkeiten und Machtgehabe im Mittelpunkt, während es
doch eigentlich Wichtigeres gäbe.
Das war schon immer so, und leider wird es wohl auch immer so bleiben. Wir sollten
trotzdem nicht müde werden, bei uns dagegen zu steuern und, wo wir es können, an den
Stellschrauben zu drehen, damit wir nicht nur um uns selbst kreisen.
Hanns Dieter Hüsch hat diesem Thema das wunderbare Gedicht "Glücklich die Kirche"
gewidmet, das in seinem Duktus den Seligpreisungen der Bibel ähnelt.
Wenn wir es aufmerksam lesen, werden wir uns und unsere Kirchengemeinden an vielen
Stellen wiedererkennen. Wir sollten es innerlich abspeichern, damit wir es jederzeit abrufen
und einsetzen können; vielleicht tragen wir dann dazu bei, dass von uns als einem Teil der
Kirche heilsame Worte, Zeichen und Taten ausgehen – für andere.
Glücklich die Kirche,
die nicht sitzt im Rat der Ratlosen;
die sich nur um sich selber dreht.
Glücklich die Kirche,
die nicht die Wege geht der Sünde und Schande –
ohne Sinn und Verstand;
in der sich alles um das Geld dreht.
Glücklich die Kirche,
die kein Risiko scheut;
die sich selber aufs Spiel setzt –
die die Güte Gottes austeilt an die Armen
mit vollen Händen.
Glücklich die Kirche,
die Lust hat an den Geboten Gottes;
die das Leben auf Erden schützt
auf allen Kontinenten.
Glücklich die Kirche,
in der Menschen zusammenkommen
ohne Angst und Furcht;
sie wird zum Ort der Befreiung.
Glücklich die Kirche,
die hungert und dürstet
nach der Gerechtigkeit:
ihre Sehnsucht wird gestillt.
Glücklich die Kirche,
die durchschaubar ist
für Jung und Alt;
in ihr werden wir Gott schauen.
Hanns Dieter Hüsch / Uwe Seidel:
Ich stehe unter Gottes Schutz. Psalmen für Alletage. Düsseldorf:, 201614
Mit herzlichen Grüßen in den Frühsommer,
Ihre stellvertretende Vorsitzende
Annelen Ottermann
BRIEF OSTERN 2024
Liebe Freundinnen, liebe Freunde unseres Frauenbundes,
wie schon 2023 möchte ich Ihnen auch in diesem Jahr einen kurzen österlichen Gruß schicken.
Im Mittelpunkt steht diesmal ein Gedicht von Andreas Knapp. Der 1958 im badischen Hettingen Geborene gehört dem Orden der "Kleinen Brüder vom Evangelium" an. Knapp wurde nach dem Studium der Katholischen Theologie und Philosophie in Freiburg zum Priester geweiht und promovierte an der Gregoriana in Rom über das Thema "Soziobiologie und Moraltheologie. Kritik der ethischen Folgerungen moderner Biologie".
Vor seinem Eintritt in die Ordensgemeinschaft betreute Knapp als Seelsorger die Freiburger Hochschulgemeinde und stand dem Priesterseminar seines ehemaligen Studienorts vor. Seit dem Jahr 2000 engagiert er sich in seinem Orden, der es sich zum Ziel gemacht hat, die christliche Botschaft durch ein Leben in Bedürfnislosigkeit inmitten der Armen, oftmals in prekären Wohngebieten und in kirchenferner Umgebung, zu verkünden. Dies gilt auch für Knapp, der mit seiner kleinen Gemeinschaft aus vier Brüdern in der Plattenbau-Siedlung in Leipzig-Grünau lebt und arbeitet, daneben auch in der Gefängnisseelsorge tätig ist und bereits am Fließband gestanden hat.
Mit seiner religiösen Lyrik will Knapp nicht missionieren, sondern Gott auf der Spur bleiben, wie er selbst es formuliert. Er hat damit weithin Bekanntheit und Anerkennung als "Poet im Plattenbau" erlangt.
Für die Tage zwischen Karfreitag und Ostern habe ich für Sie Knapps Gedicht "wunder des weizenkorns" aus dem 2020 erschienenen Band ganz knapp. Gedichte an der Schwelle zu Gott ausgewählt. Vielleicht löst es auch in Ihnen etwas aus?
Ich wünsche uns allen, dass die Botschaft von Ostern über die Festtage hinaus in unseren Alltag wirkt und uns Wurzeln und Flügel verleiht.
Mit herzlichen Grüßen
Ihre stellvertretende Vorsitzende
Annelen Ottermann
BRIEF JANUAR 2024
Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes,
es ist eine gute Tradition, den Monatsbrief im Januar mit der Jahreslosung zu
beginnen. So möchte ich Ihnen auch für 2024 einige Gedanken zu dem für dieses
Jahr vom Ökumenischen Arbeitskreis für Bibellesen ausgesuchten Leitvers mit
auf den Weg geben:
Die diesjährige Losung steht im 1. Korintherbrief des Apostels Paulus (1. Kor. 16,
14) und lautet: "Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe."
Zwar ist das Jahr nicht mehr ganz taufrisch, aber noch ist Zeit genug, einen
Moment bei dieser Losung zu verweilen:
Das Wesen eines Leitverses ist seine Kürze. Prägnant muss er sein, soll sich schnell
einprägen, jederzeit abrufbar. Die Kürze indes birgt auch immer die Gefahr der
‚Verkürzung‘; ein Satz wird aus seinem Kontext gerissen, steht für sich da, das
‚Davor‘ und ‚Danach‘ werden ausgeblendet.
So auch in diesem Jahr. Der erste Impuls beim Hören der diesjährigen Losung ist
vielleicht: Wie schlicht, wie selbstverständlich kommt dieser Satz daher.
Langweilig, längst bekannt – natürlich steht die Liebe im Mittelpunkt unseres
Denkens und Handelns. Was denn sonst?
Bei genauerem Bedenken geraten wir jedoch unweigerlich ins Grübeln und
Stolpern: Was vordergründig banal und kaum der Rede wert erschien, erweist sich
als Zumutung und Provokation, lädt zum Widerspruch ein.
Schauen wir uns den Kontext näher an: Der Apostel Paulus schreibt an die
christliche Gemeinde in Korinth, die Mitte des 1. Jahrhunderts von ihm gegründet
wurde. Dass er sich hier länger als an anderen Stationen seiner Missionsreisen
aufhielt, hatte seine Gründe: Korinth war ein besonderes Pflaster, eine
pulsierende Hafenstadt, ein Schmelztiegel der Kulturen und Religionen. Es gab
viele kleine Hausgemeinden in der Stadt und jede hatte ihre eigene rechtliche und
moralische Prägung, ihre individuellen Rituale und Vorschriften im Alltag.
Missverständnisse und Verwerfungen zwischen unterschiedlichen sozialen
Gruppen und Bildungsschichten waren fast unvermeidbar. Zu weiteren Spannungen
führten die vielfältigen religiösen Sozialisationen von Judenchristen,
Heidenchristen und Menschen, die den Weg vom Heiden- zum Christentum über
den jüdischen Glauben gefunden hatten. Was bei den einen selbstverständlich und
allgemein akzeptiert war, erregte andernorts größte Befremdung und stieß auf
Ablehnung. Hier also galt es für Paulus zu erklären, zu vermitteln, zu besänftigen,
zu befrieden. Und vor diesem Hintergrund erhält sein Ausspruch "Alles, was ihr
tut, geschehe in Liebe" eine ganz neue Dimension.
Bild: Stefanie Bahlinger
.........................
Nach dem berühmten Kapitel 15, in dem er sich ausführlich mit der
Auferstehungshoffnung der Christen und ihren Kritikern auseinandersetzt,
blättert der Apostel im 16. Kapitel seine Reisepläne auf und beschließt diesen
Abschnitt mit Ermahnungen und Grüßen an die Gemeinde. In Vers 13 fallen vier
Imperative auf: "Wachet – steht im Glauben – seid mutig – seid stark." Paulus
warnt die Christen in Korinth vor Schläfrigkeit und Oberflächlichkeit. Er
appelliert an ihre Verwurzelung im unerschütterlichen Glauben, der sie schützt
und stärkt, auch bei Turbulenzen und in Krisen.
Und direkt hier schließt Vers 14 mit der Jahreslosung an: Die Imperative werden
aufgefangen und getragen von der Liebe. In ihr mündet all unser Sein und Handeln.
Wenn Jesus von "dem neuen Gebot" als Teil seines Vermächtnisses spricht, dann
meint er damit das allumfassende, bedingungslose, grenzüberschreitende
Liebesgebot: die Liebe zum Nächsten und sich selbst und auch die Feindesliebe –
ein Alleinstellungsmerkmal im christlichen Glauben, das wir aus keiner anderen
Religion kennen.
Ach, welch‘ frommes Wunschdenken, fern aller Realität, gut für Kanzelreden,
werden manche einwenden. Damals doch schon und erst recht heute, wo es nicht
reicht, den Mantel der Liebe über die kaum mehr zählbaren Krisen und Kriege in
aller Welt zu decken. In der Tat, die Wirklichkeit macht es uns nicht eben leicht,
diesen Satz ernst zu nehmen.
Aber vielleicht sind wir gerade jetzt und gegen alle Erfahrungen des Alltags
aufgerufen, wirklich Ernst zu machen mit diesem Liebesgebot. Es wäre zu einfach,
wollten wir den Satz als bloße Utopie abtun, resignierend, weil unsere Zeit eben
nach anderen Regeln funktioniert. Natürlich können wir den Lauf der Dinge nicht
einfach anhalten, aber wir können hier und da dem Rad in die Speichen greifen,
können Zeichen des liebevollen Umgangs miteinander setzen und ganz klein bei uns
beginnen mit dem Gewinnen einer inneren Lebenshaltung – zu unserem Leben und
zum Miteinanderleben.
Wie uns das gelingen kann, dieses "Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe"? Eine
berechtigte Frage – so einfach und zugleich provokant wie die Losung selbst mit
ihren nur fünf Worten im Griechischen!
Wenn die Bibel von "Liebe" (Agape/ ἀγάπη) spricht, so ist damit immer eine
wechselseitige Beziehung gemeint: Gottes Liebe zum Menschen und die Liebe des
Menschen zu Gott. Das ist zentral, denn diese Wechselbeziehung wird zur
Resonanzfläche und nur aus ihr schöpfen wir die Kraft für unsere Haltung, unser
Ver-halten im realen Leben.
Stellen wir doch den moralischen Impuls, das "Du sollst" mit erhobenem
Zeigefinger in den Hintergrund, damit die Hauptsache sichtbar wird: die
Ertüchtigung zur Liebesfähigkeit. Die gegenseitige Beziehung zwischen Gott und
uns Menschen verpflichtet und entlastet uns so gesehen in einem Atemzug. Denn
wir leben und lieben als Christinnen und Christen ja nicht ohne Netz und doppelten
Boden. Wir halten in Liebe zueinander aus, weil wir von Liebe getragen werden.
Martin Luther wird folgende schöne Formulierung zugeschrieben: "Gott ist ein
glühender Backofen voller Liebe, der da reichet von der Erde bis an den Himmel."
Auch sein Zeitgenosse Huldrych Zwingli, der Reformator Zürichs, fand
anschauliche Worte zur christlichen Liebe: "Mit dem Augenmaß ist der
Zimmermann nie so genau, dass er nicht noch der Messlatte bedürfte. So sind alle
Entschlossenheit und aller Glaube nichts, es sei denn, sie orientierten sich an der
Liebe."
"Liebe" ist der Kernbegriff beider Aussprüche. Bei Zwingli wird sie zur
entscheidenden Messlatte, zum Maßstab und Orientierungspunkt für das
christliche Leben. Bei Luther werden wir von dem alles umfassenden "göttlichen
Liebes-Backofen" gewärmt. Von dieser Hitzequelle empfangen wir die nötige
Wärme und Energie für die ‚kleinen Brötchen‘, die wir in unserem Alltag backen.
Ich grüße Sie auch im Namen unserer erkrankten 1. Vorsitzenden Karin Kiworr
sehr herzlich und wünsche uns allen, dass wir in die Alltags-Brötchen dieses
Jahres viel Liebe hineinkneten.
Ihre stellvertretende Vorsitzende
Annelen Ottermann
BRIEF DEZEMBER 2023
Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes,
vor kurzem erst haben Sie den Novemberbrief erhalten – und wie ich über eine
einzelne Rückmeldung hörte, wurde er positiv aufgenommen.
Heute nun folgt schon der Gruß für den Dezember, der Sie durch die Adventszeit
geleiten möchte:
In diesem Jahr fallen Heiligabend und 4. Advent zusammen. Eine Bekannte schrieb
mir kürzlich, sie fühle sich um 1 Woche ‚betrogen‘ und wolle die Adventszeit bereits
7 Tage vorverlegen, um wieder auf die volle Zeit zu kommen. Was steckt dahinter?
Sicher nicht der Wunsch nach noch mehr Besinnlichkeit, Kerzenschein, Einkehr und
stiller Erwartung. Ich fürchte, der Wunsch war Ausdruck des Gegenteils, nämlich der
Unruhe und Besorgnis, alles zu ‚schaffen‘ – den Geschenkekauf, das Plätzchenbacken,
die Grußpost, die vielen Weihnachtsfeiern, die Festessensplanung für die Familie usw.
Jedes Jahr aufs Neue nehmen viele von uns sich vor, es im Folgejahr ruhiger angehen
zu lassen, nicht in den vorweihnachtlichen Aktivitätskoller zu fallen und sich das
Gehirn zu zermartern, was man wem bieten, womit man wen über-bieten könne.
Spätestens, wenn sie am 27.12. völlig erschöpft in den Sessel sinken oder sich nach
Wochen der Rastlosigkeit und Hektik plötzlich leer fühlen.
Und dann wird es beim nächsten ‚Durchgang‘ doch wieder so oder so ähnlich wie
zuvor. Oder schaffen wir es vielleicht doch, ein ganz bisschen auszubrechen aus dem
Hamsterrad der selbstgemachten Zwänge und vermeintlichen Erwartungen?
Wagen wir es doch einfach mal! Vereinbaren wir mit unseren Freunden, auf
Geschenke zu verzichten und uns stattdessen im Neuen Jahr zu treffen, um Zeit
miteinander zu verbringen. Sagen wir den Verwandten, die wir zum Fest erwarten,
dass es diesmal nicht das Viergangmenu auf Sterneniveau geben wird, sondern etwas,
das mit weniger Aufwand zubereitet allen genauso gut schmeckt. Trauen wir uns,
auch mal ‚Nein‘ zu sagen, wenn noch mehr Termine anberaumt werden, geben wir
Körper und Seele die Zeit, die sie brauchen, damit es uns gut geht und wir das Fest
wirklich genießen können.
Lassen wir es leerer an ‚Events‘, leiser an Geräuschen, gemächlicher an
Verpflichtungen werden, damit wir die Weihnachtsbotschaft wieder wahrnehmen
und sie in unseren Alltag mit hineinnehmen, das "Fürchtet Euch nicht".
Werden wir mit Herz, Mund, Händen und Füßen zu Boten der Weihnachtsfreude
mitten im Alltag, für uns und unsere Lieben, vor allem aber für die vielen, denen die
Weihnachtsstimmung nicht in den Schoß fällt, weil sie einsam, erschöpft, heimatlos,
krank oder unbehaust sind.
Krippenfiguren in der Mainzer Altmünsterkirche
Tina Willms verdanken wir die nachfolgenden Worte, die ich Ihnen mit auf den Weg
in diese besondere Zeit geben möchte:
Advent im Alltag
Dass draußen über der Finsternis ein großes Licht erscheint
und Engel ein Lied singen in verstummte, furchtsame Herzen;
dass an der Krippe alle gemeinsam stehen,
Hirten und Könige, Ochse und Esel und Lamm;
dass am Weihnachtsfest die Worte vom Frieden auf Erden
auch heute manche Waffen zum Schweigen bringen:
all das hält die Sehnsucht wach nach einer anderen Welt.
Eine Sehnsucht, die uns antreibt und Kraft verleiht.
Und wir treten in Jesu Fußstapfen, um Schritt für Schritt
Das Gesicht der Erde zu verändern.
(Tina Willms: Zwischen Stern und Stall. Ein Begleiter durch die Advents- und Weihnachtszeit.
Andachten, Gedichte und Gebete. Neukirchen-Vluyn, 20205)
In diesem Sinn grüße ich Sie, auch im Namen unserer lieben Vorsitzenden Karin
Kiworr, mit der wir in diesen Tagen ganz besonders fest in Gedanken verbunden sind.
Ich wünsche Ihnen und uns allen eine gesegnete Adventszeit, die uns leicht,
zuversichtlich und froh auf das Fest der Geburt Christi zugehen lässt,
Ihre stellvertretende Vorsitzende
Annelen Ottermann
BRIEF NOVEMBER 2023
Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes,
spätestens mit Umstellung der Uhr auf die Winterzeit war es uns allen bewusst: die Tage des sprichwörtlichen Goldenen Oktobers sind vorbei. Je weiter wir im Jahr voranschritten, desto mehr haben wir die späten Sonnenstrahlen ausgekostet, wollten sie konservieren, uns einen Wärme- und Lichtvorrat für die dunklen Wochen anlegen. Inzwischen konnten wir das Kalenderblatt umschlagen, haben November – der Monat, der wie kein anderer synonym für unwirtliches Wetter, Dunkelheit, Nebel, Wind, Unbehaustheit steht. Die Gedenktage in diesen Wochen tun ihr Übriges, unsere Gedanken, unsere Blicke sind oftmals beschwert, trübe und haben nichts mehr von der Leichtigkeit des Sommers. Nicht von ungefähr spricht man vom Novemberblues, Literatur und Musik passen sich der Novemberstimmung an.
Aber wir müssen da durch! Und wenn wir näher darüber nachdenken, kommen wir vielleicht zu der Erkenntnis, dass dieser Monat auch sein Gutes hat: er ist eine Zwischenzeit, in der wir dankbar Rückschau auf die Ernte des bisherigen Jahres halten können, auf glückliche Stunden, Begegnungen, Neuentdeckungen, auf Gelungenes und Neu-Gewagtes. Und zugleich weiten wir unseren Blick auf das Kommende, die Adventszeit, auf den, dessen Kommen uns verheißen ist und der uns aus Betrübnis und Verzagtheit, aus Zweifel und Hader herausführt, uns, wie Paul Gerhardt es mehrfach formuliert hat, aus den Ängsten, aus allem Jammer reißt.
Mit dem früheren Einsetzen der Dunkelheit entzünden wir gern Kerzen und holen uns auf viele Weise Helligkeit in unsere Häuser. Eine wichtige Rolle spielt dabei neben guter Literatur unstrittig auch die Musik. Martin Luther werden folgende Worte zugeschrieben: "Nichts auf Erden ist kräftiger, die Traurigen fröhlich, die Ausgelassenen nachdenklich, die Verzagten herzhaft, die Verwegenen bedachtsam zu machen, die Hochmütigen zur Demut zu reizen, und Neid und Hass zu mindern, als die Musik."
Manchmal tut es gut, sich das Gesangbuch vorzunehmen, es durchzublättern und hier und da zu verharren. Wir buchstabieren die Worte nach, die über Jahrhunderte gefunden wurden, um Lob und Preis, Klage und Zweifel, Hoffen und Warten auszudrücken und summen die Melodien mit. Wenn mich jemand nach dem Buch fragte, das ich auf eine einsame Insel mitnehmen würde, so wäre es das Evangelische Gesangbuch (EG), ergänzt um das Beiheft "EG plus".
Und so möchte ich Sie heute auf eine neuerliche Reise durch dieses Schatzkästlein des Glaubens mitnehmen. Ausgesucht habe ich mir dafür ganz bewusst einen Autor, der mit seinen Liedern etwas Fröhliches, Helles, Aufmunterndes und Zuversichtliches transportiert und einen Gegenakzent zum Novemberblues setzt:
Eingeladen zum Fest des Glaubens und Eugen Eckert, der Frankfurter Stadionpfarrer
"Dies ist ein Wohnbuch, mit dem man leben, in dem man sich wohlfühlen kann", so lautete kürzlich die Empfehlung einer Buchhändlerin zu einem Roman. Mir hat das gut gefallen, und die bildhafte Formulierung kam mir wieder in den Sinn bei der Beschäftigung mit dem Lied Eingeladen zum Fest des Glaubens. Bleiben wir im Bild, so ist dies ein Wohnlied, ein Lied, in dem man sich wohlfühlt.
Schauen wir, wer hinter dem Text des Liedes steht: Sein Autor ist Eugen Eckert, 1954 in Frankfurt als Sohn ungarndeutscher Eltern geboren, die als Flüchtlinge vom Plattensee an den Main gekommen waren. Nach einer Tätigkeit als Sozialarbeiter in einem Mädchenwohnheim schrieb sich Eckert zunächst an der Goethe-Universität für Physik ein, wechselte zur Slawistik und studierte seit 1979 in Frankfurt und Mainz evangelische Theologie. Nach dem Frankfurter Vikariat übernahm Eckert eine Pfarrstelle in Offenbach-Lauterborn, die er bis 1995 innehatte.
Eckert, der ursprünglich der evangelisch-methodistischen Gemeinde in Frankfurt angehört hatte und mit 20 Jahren zur Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) übergetreten war, engagierte sich früh in der kirchlichen Jugendarbeit und begann Mitte der 1970er-Jahre mit dem Verfassen neuer geistlicher Lieder. 1975 zählte er zu den Begründern der Band Habakuk, die sich nach Impulsen auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Frankfurt dem geistlichen Liedgut verschrieb. Der Band, die als kirchliche Pop- und Rockgruppe im In- und Ausland auftritt und eine Vielzahl von Studioproduktionen herausgebracht hat, gehört Eckert bis heute als Sänger, Texter und Manager an.
Seit 1996 versah Eckert für zwei Jahrzehnte das Amt des Studentenpfarrers der Frankfurter Universität, war etwa zeitgleich Lehrbeauftragter im Fachbereich Kirchenmusik an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst und arbeitete als Beauftragter für Gemeindesingen und Gesangbuchkunde. Sein Engagement für die Aktion Sühnezeichen führte ihn zu zahlreichen Reisen nach Polen mit Arbeitseinsätzen im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz.
Bei seiner Tätigkeit in kirchenmusikalischen Arbeitskreisen und Gremien war Eckert von Anfang an dem ökumenischen Gedanken stark verpflichtet und arbeitete eng mit seinen katholischen Kollegen zusammen. Bis heute organisiert er den jährlichen Ökumenischen Tag des Neuen Geistlichen Liedes in Wetzlar und engagiert sich in dem von ihm 2013 mit begründeten ökumenischen Verein inTAKT für die Förderung des Neuen Geistlichen Liedes. Durch seine Rundfunkandachten für den WDR und HR 2 ist Eckert einem weiten Hörerkreis bekannt.
2007 erwarb Eckert eine Zusatzqualifikation im Studiengang Management in Social Organisations an der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt als Magister. Im selben Jahr wurde er mit halber Stelle Stadionpfarrer der Frankfurter Commerzbank-Arena; er leistet Basisarbeit mit den Fans vom FC Frankfurt an den Schnittpunkten von Kirche und Sport. Aus Eckerts zahlreichen Publikationen sei auf ein 2014 erschienenes Buch hingewiesen, das den Stadionpfarrer besonders eindrücklich kennzeichnet: Der Heilige Geist ist keine Schwalbe. Gott, Fußball und andere wichtige Dinge.
2017 beendete Eckert seine universitäre Tätigkeit, wurde halbtags bei der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Kontaktpfarrer zu den Sportverbänden und war in dieser Funktion dem Sportbeauftragten der EKD, Kirchenpräsident Volker Jung, zugeordnet. Seit seiner Pensionierung im Jahr 2021 arbeitet Eckert weiter auf Honorarbasis für die EKD und die EKHN.
Das Schreiben, Einstudieren und Aufführen von Liedern zählt zu Eckerts liebsten Freizeitbeschäftigungen, wie er selbst von sich gesagt hat. Die enorme Zahl von etwa 2000 Liedern aus seiner Feder, ergänzt durch größere musikalische Werke, spricht für sich!
Im Evangelischen Gesangbuch stoßen wir auf zwei Lieder von Eckert, die in den 1980er-Jahren entstanden. Eines davon ist uns wohl vertraut und wärmt uns durch Text und Melodie: Bewahre uns Gott, behüte uns Gott, sei mit uns auf unseren Wegen (EG 171), das als Segenslied gern zum Ausgang des Gottesdienstes gesungen wird und uns in die Woche entlässt. Mit dem ursprünglich spanischen Text La paz del Señor entstand es in der Zeit der Friedensbewegung unter dem Einfluss von argentinischen Volksweisen. 2009 wurde es bei der öffentlichen Trauerfeier für die Opfer des Amoklaufs in Winnenden gesungen.
Weniger geläufig dürfte den meisten das Beichtlied (EG 584) sein, das unter dem Eindruck von Eckerts Arbeit im Mädchenwohnheim entstand: Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht bringe ich vor dich. Wandle sie in Weite: Herr, erbarme dich. Die Melodie hierfür komponierte der katholische Kirchenmusiker Winfried Heurich, mit dem Eckert eng zusammenarbeitete. Beide Texte fanden auch Eingang in das katholische Gotteslob (GL 453 und 437), wie sich generell viele seiner Lieder konfessionsübergreifender Verbreitung erfreuen.
Unsere besondere Aufmerksamkeit soll nun dem Lied Eingeladen zum Fest des Glaubens gelten. Es findet sich unter Nr. 32 im Beiheft unseres Gesangbuchs, das zwei weitere Lieder von Eckert enthält: Atem des Lebens, wehe uns an (EGplus 20) und Da wohnt ein Sehnen tief in uns (EGplus 102).
Betrachten wir es als eines der bekanntesten neuen geistlichen Lieder etwas genauer: Der zentrale Gedanke der vier Strophen ist so einfach wie faszinierend: Glaube wird hier nicht als Zwang, nicht als Machtinstrument eingesetzt; das Geschenk des Glaubens wird hier verstanden als Einladung Gottes an uns, zu einem Fest, das wir mit ihm feiern dürfen. Diese Einladung gilt für Junge und Alte, Gesunde und Kranke, für Menschen ohne Ansehung ihrer sozialen Herkunft, ihres Temperaments und ihrer bisherigen Erfahrungen mit Gott. Was sie eint, ist der Prozess der Verwandlung in der Begegnung mit Jesus. Sie lässt die Menschen, wie es in der letzten Strophe heißt, selbst zu Boten ihres Glaubens werden.
Den Strophen im nüchternen Reportage-Stil schließt sich der herrlich schwungvolle Refrain an, der die Begeisterung über das Fest des Glaubens, das wir mitfeiern dürfen, musikalisch gelungen umsetzt. Nicht zufällig wurden hier, wie zu hören ist, schon Assoziationen an Fangesänge aus dem Stadion geweckt! Die eingängige Melodie stammt von dem spanischen Gitarristen Alejandro José Veciano.
Der 1962 in Frankfurt geborene Veciano gehörte von 1985 – 2001 der Band Habakuk an und arbeitete mit Eckert bei vielen Liedern als Komponist zusammen.
1. Aus den Dörfern und aus Städten, von ganz nah und auch von fern,
mal gespannt, mal eher skeptisch, manche zögernd, viele gern,
folgten sie den Spuren Jesu, folgten sie dem, der sie rief,
und sie wurden selbst zu Boten, dass der Ruf wie Feuer lief:
Eingeladen zum Fest des Glaubens, eingeladen zum Fest des Glaubens.
2. Und so kamen sie in Scharen, brachten ihre Kinder mit,
ihre Kranken, auch die Alten, selbst die Lahmen hielten Schritt.
Von der Straße, aus der Gosse kamen Menschen ohne Zahl,
und sie hungerten nach Liebe und nach Gottes Freudenmahl:
Eingeladen zum Fest des Glaubens, eingeladen zum Fest des Glaubens.
3. Und dort lernten sie zu teilen Brot und Wein und Geld und Zeit;
und dort lernten sie zu heilen Kranke, Wunden, Schmerz und Leid;
und dort lernten sie zu beten, dass dein Wille, Gott, geschehe;
und dort lernten sie zu leben, dass das Leben nicht vergehe.
Eingeladen zum Fest des Glaubens, eingeladen zum Fest des Glaubens.
4. Aus den Dörfern und aus Städten, von ganz nah und auch von fern,
mal gespannt, mal eher skeptisch, manche zögernd, viele gern,
folgen wir den Spuren Jesu, folgen wir dem, der uns rief,
und wir werden selbst zu Boten, dass der Ruf noch gilt, der lief:
Eingeladen zum Fest des Glaubens, eingeladen zum Fest des Glaubens.
Ich wünsche uns allen, dass wir uns von der Lebensfreude dieses Liedes anstecken lassen. Von Eckerts Begeisterung und Glaubenszuversicht getragen, möge es uns gelingen, auch graue und beschwerliche Tage durchzustehen und voller Erwartung der Adventszeit entgegenzusehen. Unsere intensiven Gedanken und Genesungswünsche gehen in diesen Wochen ganz besonders zu unserer lieben Vorsitzenden, Karin Kiworr.
Bleiben Sie behütet und seien Sie alle herzlich gegrüßt,
Ihre stellvertretende Vorsitzende
Annelen Ottermann
BRIEF SOMMER 2023
Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes,
seit unserem letzten Monatsbrief um Ostern ist einige Zeit vergangen und sehr
Vieles hat sich ereignet, nicht allein in der weiten Welt der Politik, sondern auch
ganz nah, vor unserer Haustür. Die jähe, schwere Erkrankung unserer lieben
Vorsitzenden Karin Kiworr hat uns alle erschüttert, und sehr viele aus unserem
Kreis haben sie in den letzten Monaten in Gedanken und Gebeten begleitet.
Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, dass Karin Kiworr ihre Operation gut
überstanden hat und nun nach sehr schwierigen und kritischen Wochen allmählich
auf dem Wege der Erholung ist. Die Anschlusstherapien fordern und strengen sie
sehr an. Da ihre Kräfte auch weiterhin noch sehr reduziert sind und sie größere
Belastungen vermeiden muss, schreibe ich Ihnen diesmal in ihrer Vertretung.
Sie hat sich gefreut, dass wir uns im Juni zum Monatstreffen auf dem
Lerchenberg eingefunden haben und bedankt sich bei allen für die
Genesungswünsche, die wir ihr von dort geschickt hatten. Auch heute gilt Karin
Kiworr unserer ganz besonderer Gruß, verbunden mit der Hoffnung, dass die
Komplikationen der Nachbehandlung sie so wenig wie möglich einschränken und
beschweren!
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August 2023: Die Mitte des Jahres ist überschritten, wir haben die längsten Tage
genossen, die größten Hitzeperioden durchgestanden und mit Sorge den
unübersehbaren Klimawandel wahrgenommen. Früher als üblich wurde das
Getreide reif, die meisten Kornfelder sind bereits abgeerntet. Wir haben der
Natur beim Sich-Entfalten, Wachsen, Blühen zugesehen, uns gekümmert, wenn
Gepflanztes unter der Trockenheit zu sehr litt. Nun können wir aktuell alle
aufatmen, weil die kühlere Witterung und der dringend nötige Regen allen gut tun.
Einige Sonnenstrahlen freilich wünschen wir uns dann aber doch wieder für den
Spätsommer und ein paar Grad mehr auf dem Thermometer. Jede und jeder wird
die Witterung anders empfinden, und alle werden nie gleichermaßen zufrieden
sein … .
Im Kleinen leisten wir mit bewusstem Alltagsverhalten und dem Verzicht auf
manche Bequemlichkeiten alle mehr oder weniger unseren Beitrag dazu, dass die
Umwelt weniger belastet wird. Aber aufs Große gesehen sagen wir uns immer
wieder: "Wie gut, dass wir das Wetter nicht bestimmen können, denn sonst gäbe
es noch mehr Unfrieden unter den Menschen!"
Der Ihnen vielleicht bekannte alte Kinderkanon von Friedrich Meyer aus dem Jahr
1950 hat bei aller Schlichtheit doch nichts von seiner Richtigkeit verloren:
Sonne, Regen, Wind und Wolken,
Mond und Sterne, Tag und Nacht
sind die Boten in den Händen
dessen, der die Erd‘ gemacht.
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Ins Zentrum unseres sommerlichen Monatsbriefs stellen wir die nachfolgende
Buchvorstellung. Die meisten von Ihnen werden Hanns Dieter Hüsch schon lange
kennen und lieben und dürfen sich nun über einen frischen Blick auf diese große
und großartige Persönlichkeit freuen. Und sollte dies nicht so sein, so nutzen Sie
das neue Buch zur Erstbegegnung mit einem bemerkenswerten Künstler, der uns
vorgelebt habt, was fröhliches Christsein bedeutet.
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Gerd Laudert: Der fahrende Poet. Hanns Dieter Hüsch (1923–2005).
Norderstedt: Books in Demand, 2022. ISBN 978-3-7562-5810-9 (23,99 €)
Als 2022 eine neue Biographie zu Hanns Dieter Hüsch erschien, wurde das in Mainz mit Interesse
und Freude wahrgenommen, sind doch die Verbindungen zwischen ihm und unserer Stadt eng
und über Jahrzehnte gewachsen. Vielfache Auszeichnungen durch Stadt, Universität und Land
zeugen davon: Ehrenbürgerwürde, Gutenberg-Plakette, Ehrenring, Carl-Zuckmayer-Medaille,
Stern der Satire auf dem "Walk of Fame des Kabaretts" beim Proviantamt.
Von 1946–1988 hat der so vielseitige Kabarettist und Schriftsteller in Mainz gelebt und gewirkt,
gehörte zu den ersten Studierenden an der wieder eröffneten Universität, war Mitbegründer der
"Mainzer Zimmerspiele" und der "Arche Nova" und hatte seit 1966 seine Hausbühne am Mainzer
Unterhaus, wo er mit seinem "Örgelchen" auftrat und 1972 erster Preisträger des Deutschen
Kleinkunstpreises wurde.
Das bedeutendste deutsche Kleinkunstzentrum in der Münsterstraße liegt bei einem Besuch der
Innenstadt ganz auf dem Weg, ebenso wie das Kabarettarchiv, in dem heute die wichtigsten
Quellen zu Hüsch aufbewahrt werden.
Werfen wir also einen kurzen Blick in die sehr gelungene Hüsch-Biographie von Gerd Laudert:
Der Autor, der nach dem Studium der evangelischen Theologie und Religionspädagoge als
Grundschullehrer tätig war und 2002 mit einer Veröffentlichung zu Jesus von Nazareth hervortrat,
teilt die Begeisterung für Hanns Dieter Hüsch mit vielen von uns. Auf 256 sehr gut lesbaren Seiten
wirft er einen neuen Blick auf den "fahrenden Poeten", erinnert an Stationen, Krisen,
Wendepunkte seines Lebens und an ganz unterschiedliche, "Geistesverwandte", die sein Denken
bestimmt haben (Heinrich Heine, Uta Ranke-Heinemann, Rudi Dutschke, Reinhard Mey). Mit
Rudolf Jürgen Bartsch und Konstantin Wecker kommen Freunde zu Wort, die von Hüsch geprägt
wurden und mit ihm eine Wegstrecke gemeinsam gingen, und schließlich erinnert sich Hüschs
Tochter Anna an ihren Vater.
Den größten Raum innerhalb der Biographie, in der auch eine Auswahl seiner zentralen Texte
abgedruckt sind, nimmt das Kapitel 6 ein: "Hüschs unkonventioneller Glaube", und diesem Aspekt
soll auch hier unsere besondere Aufmerksamkeit gelten: Dass Hüsch ein tief frommer Mensch war,
wurde spätestens seit Mitte der 1980er-Jahre deutlich; die seitdem veröffentlichten Texte – Prosa,
Lyrik, Predigten – stießen unter seiner Kollegenschaft nicht überall auf Zustimmung, sondern
wurden vielfach spöttisch belächelt. Aber auch konservative Christinnen und Christen reagierten
argwöhnisch, empfanden sein vertrautes, flapsiges Reden über Gott, seine Begegnungen mit dem
"lieben Gott" in Dinslaken, mitten im Leben, als pietätlos.
Hüsch, dem in Mainz das ökumenische Aufeinanderzugehen vorgelebt worden war, wie er selbst
dankbar betonte, bezeichnete sich als "durch und durch evangelisch" und zugleich "durch und
durch katholisch". Sein Glaube war eigenwillig, frei und fröhlich, entzog sich jeder dogmatischen
Enge. Gott, der Liebende, war ihm nah, sein Wort "konfessionslos", so 1996 bei einer Predigt im
Mainzer Unigottesdienst. Nicht theologische Grundsatzfragen bewegten Hüsch, der der
Amtskirche immer kritisch begegnete. Im Zentrum des Glaubens stand für ihn vielmehr die
Hoffnung über den Tod hinaus, die sein persönliches Leben als Mensch auf der Durchreise schon
im Diesseits bestimmte und ihm die Kraft verliehen, "vergnügt, erlöst, befreit" durch das Leben
zu gehen.
Ich bin vergnügt, erlöst, befreit.
Gott nahm in seine Hände meine Zeit,
mein Fühlen, Denken, Hören, Sagen,
mein Triumphieren und Verzagen,
das Elend und die Zärtlichkeit.
Was macht, dass ich so fröhlich bin
im meinem kleinen Reich?
Ich sing und tanze her und hin
vom Kindbett bis zur Leich.
Was macht dass ich so furchtlos bin
an vielen dunklen Tagen?
Es kommt ein Geist in meinen Sinn,
will mich durchs Leben tragen.
Was macht, dass ich so unbeschwert
und mich kein Trübsinn hält?
Weil mich mein Gott das Lachen lehrt
wohl über alle Welt.1
.......................................
Für mich ist das ein bewundernswertes, wunderschönes Glaubenszeugnis des
Christen Hanns Dieter Hüsch – finden Sie nicht auch?
Uns allen wünsche ich, dass wir sie uns zu eigen machen können, diese aus seinen
Worten sprechende Zuversicht und Fröhlichkeit. Möge sie nicht nur in den lichten,
leichten Momenten unseres Lebens aufscheinen, sondern uns gerade auch über
Durststrecken, Krisen und durch dunkle Täler tragen.
Bleiben Sie behütet und seien Sie alle herzlich gegrüßt,
Ihre stellvertretende Vorsitzende
Annelen Ottermann
1 Hanns Dieter Hüsch. Abgedruckt in: Ders.: Ich habe nichts mehr nachzutragen. Die christlichen Texte (Das literarische
Gesamtwerk, Bd. 4). Berlin: Edition diá, 2017.
BRIEF MÄRZ 2023
Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes,
diesmal wird Sie wieder einmal ein Brief erreichen, nachdem wir uns ja im Februar
nach langer Pause getroffen, uns noch einmal mit der diesjährigen Jahreslosung
beschäftigt und über den Stand der Verhandlungen bezüglich der Zukunft des
Frauenbundes in Mainz und der Patientenbücherei informiert haben. Es war schön,
endlich einmal wieder zusammen zu sein.
Heute lädt uns Annelen Ottermann wieder zu einer "Reise durch´s Gesangbuch" ein.
Und zwar steht diesmal der Theologe und Liederdichter Friedrich Spee von
Langenfeld im Mittelpunkt, ein Theologe, den ich persönlich ganz besonders
bewundere, ist er doch mit unglaublichem Mut den Hexenverfolgungen
entgegengetreten. Also lassen Sie sich mitnehmen auf diese Reise!
Bild: Friedrich Spee von Langenfeld
Reise durch´s Gesangbuch
Folge 12: Friedrich Spee, Priester, Mahner und Prophet
Die 12. Folge unserer Reise durch’s Gesangbuch gilt einer der herausragenden
Persönlichkeiten des frühen 17. Jahrhunderts, Friedrich Spee von Langenfeld, der
als Dichter, Seelsorger und Bekämpfer des Hexenwahns von sich reden machte und
der – ähnlich den in früheren Folgen vorgestellten Persönlichkeiten Paul Gerhardt
und Heinrich Schütz – in einer von Seuchen, Kriegen und konfessionellen Wirren
geprägten Zeit lebte.
1591 wurde er in Kaiserswerth in eine vom rheinischen Katholizismus geprägte, tief
fromme Adelsfamilie geboren. Sein Vater war als Küchenmeister und Hofschenk am
kurkölnischen Hof beschäftigt. Während seiner Schulzeit am Kölner Triconoratum,
der ältesten Jesuitenschule Deutschlands, lebte er im dortigen Konvikt, schloss die
schulische Ausbildung am Gymnasium Montanum ab, immatrikulierte sich 1608 an
der Artistenfakultät der Kölner Universität und erwarb dort den Grad des
Bakkalaureus. Mit 19 Jahren trat Spee in den Jesuitenorden ein; sein Noviziat
begann er in Trier, legte nach der pestbedingten Evakuierung sein Erstes Gelübde
in Fulda ab, von wo er nach Würzburg zum Philosophiestudium entsandt und hier
1615 zum Magister Artium promoviert wurde. Es schlossen sich in den Folgejahren
Lehrtätigkeiten an den Kollegien von Speyer und Worms an, bei denen er sich sehr
bewährte. Seinem Wunsch, wie viele seiner Mitbrüder zur Missionierung nach
Indien oder Japan entsandt zu werden, wurde nicht statt gegeben. 1618 erhielt
Spee die Zulassung zum Theologiestudium in Mainz, wo er 1622 auch zum Priester
geweiht wurde und bald danach seine akademische Ausbildung abschloss. Parallel
hatte er am Mainzer Jesuitengymnasium Rhetorik unterrichtet. Ein erneuter
Ortswechsel führte den Theologen 1623 als Philosophieprofessor, Seelsorger und
Religionslehrer nach Paderborn. Spees Antrag, seinen letzten Ausbildungsabschnitt
in Italien abzuleisten, um sich sprachlich auf die Betreuung von Verwundeten aus
ausländischen Söldnertruppen vorzubereiten, lehnten seine Vorgesetzten ab und
beorderten ihn stattdessen nach Speyer, wo er 1627 seine Ausbildung abschloss
und anschließend für eine Unterrichtsvertretung an seinem alten Jesuitengymnasium
nach Köln umzog.
Ein großer geographischer Sprung schließlich führte ihn auf Ordensgeheiß 1628 in
die Hildesheimer Region zur Rekatholisierung der Bevölkerung im Amt Peine – eine
schwierige Tätigkeit inmitten konfessioneller Spannungen, bei der er als Opfer
eines Attentats seiner Gegner schwer verletzt wurde. Wieder genesen, führte ihn
1629 ein Ruf als Professor für Moraltheologie nach Paderborn zurück, immer noch
ohne die Letzten Gelübde und damit ohne rechtsgültige Aufnahme in den Orden,.
Das Vorrücken der schwedischen Truppen auf die Stadt führte zur Schließung des
Kollegs, worauf es Spee wieder nach Köln und von hier nach einem konfliktreichen
Jahr auf eigenen Wunsch nach Trier verschlug. Hier lehrte er in seinen letzten
Lebensjahren und wurde in die Kriegswirren und den Machtkampf zwischen
Franzosen und Habsburgern verstrickt. Den seelsorgerlichen Einsatz für die
Verwundeten zahlte Spee schließlich 1635 nach einer Pestinfektion mit dem Tod.
Erst im 350. Todesjahr des Dichters und Mahners setzte 1985 die
wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Person und Werk ein.
Zu herausragender und bis heute fortdauernder Bedeutung gelangte Friedrich
Spee als Bekämpfer des Hexenwahns. Hier zeigt sich sein früh erwachter
kritischer und rebellischer Geist, mit dem er sich unerschrocken und unermüdlich
widersetzte, wo Menschen Unrecht geschah, wo Strukturen korrupt und der Geist
des Evangeliums verloren gegangen waren. Unhaltbare Zustände manifestierten
sich für ihn in der Hexenverfolgung seiner Zeit, gerade an den Orten seines
Wirkens in extremer Weise. Spee wollte dem Treiben der Inquisitoren ein Ende
bereiten, den Teufelskreis der eingespielten Verfahren von Denunziation,
Hetzkampagnen, Folter und Scheiterhaufen durchbrechen, den als Hexen
verurteilten Frauen wieder zu ihrem Recht verhelfen und die Verurteilten noch im
Kerker an Leib und Seele betreuen.
Dass er sich mit seiner Infragestellung vermeintlicher Plausibilitäten und
entsprechender Praktiken innerhalb des Ordens wie auch bei geistlichen und
weltlichen Machthabern keine Freunde machte, liegt auf der Hand. Spee war
unbequem, er stiftete Unruhe und polarisierte, aber nie aus Eitelkeit und
Machtstreben, sondern stets aus unbedingter Liebe zum Menschen. Wo immer er
auftrat, stand er unter strenger Beobachtung. Sein Tun und Lassen, seine
mündlichen und schriftlichen Äußerungen erregten Anstoß und Ärgernis, und so
ziehen sich die Ermahnungen, Beschwerden, Sanktionen bei Ausübung seiner
akademischen Lehre, Strafversetzungen und mehrfache Androhung des
Ordensausschlusses wie ein roter Faden durch sein von ruhelosem Wechsel der
Wirkungsorte markiertes Leben. Spee ließ sich von alledem nicht bremsen.
Die Anfeindungen kulminierten, als Spee seine Einwände gegenüber der
Hexenverfolgung in dem weltberühmten Werk niederlegte, das bis heute nichts von
seiner Bedeutung als historisches Zeugnis verloren hat – die Cautio criminalis, zu
Deutsch Rechtliches Bedenken wegen der Hexenprozesse. Der von einem Freund,
nicht von Spee selbst, initiierte Erstdruck erschien 1631 in Rinteln – ohne
Druckerlaubnis seiner Vorgesetzten, was im Orden übelst vermerkt wurde. Obwohl
Spee auf dem Titelblatt nicht genannt war, konnte man seine Autorschaft schnell
entlarven. Der Empfehlung, kritische Stellen zu überarbeiten, leistete Spee nicht
Folge; stattdessen wurde im Folgejahr in Köln bereits die eher noch schärfer
gefasste zweite Auflage gedruckt, was zu einer Kulmination der Spannungen mit
der Ordensleitung führte.
Seine Warn- und Mahnschrift richtete sich gezielt an die für die schreienden
Missstände verantwortlichen Personen und Institutionen aus Staat und Kirche.
Spee, der nie ein Stubengelehrter sein wollte, ging es darin nicht um theoretische
Reflexionen, sondern um tatsächliche Veränderungen. Zu seinen Grundforderungen
gehörten Selbstverständlichkeiten des heutigen Prozessrechts wie
Unschuldsvermutung, Recht auf Verteidigung, Unabhängigkeit von Richtern und
Verbot der Folter als Beweismittel.
Seit mehr als 300 Jahren werden Spees Lieder gesungen, doch kaum jemand kennt
ihn als ihren Verfasser. Das liegt nicht allein daran, dass der Dichter bis ins 19.
Jahrhundert weithin in Vergessenheit geraten war und erst in der Zeit Romantik,
vor allem durch Clemens von Brentano, wieder ins allgemeine Bewusstsein gelangt
ist. Entscheidend dafür ist auch die Tatsache, dass Spees Autorschaft an weit
mehr als 100 Liedtexten, die über Jahrhunderte als anonym galten, erst im 20.
Jahrhundert durch Vergleich von Stil, Sprachmelodie und Metrum erbracht werden
konnte.
Spee, der sich schon früh zu Dichtung und eigener literarischer Tätigkeit
hingezogen gefühlt hatte, war talentiert und entwickelte ein ausgeprägtes
muttersprachliches Gefühl, trotz des ganz auf die Gelehrtensprache Latein
ausgerichteten Unterrichts am Gymnasium. Als junger Jesuitennovize verfasste er
erste geistliche Texte in deutscher Sprache, die als anonyme Neuschöpfungen
Eingang in verschiedene Sammlungen gedruckter Kirchengesangbücher der
1620er Jahre fanden. Deutlich später, erst nach dem Tod Spees, sollte seine geistliche
Poesie auf höchstem sprachlichen Niveau in zwei Druckwerken erscheinen: seinem
lyrischen Hauptwerk, der Trutz-Nachtigall, einer Auswahl von Liedern und
Gedichten zu allen Themen der geistlichen Lieddichtung, und dem ursprünglich für
eine religiöse Frauengemeinschaft verfassten Güldenen Tugend-Buch mit frommen
Übungen und Betrachtungen zu den Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung unter
Einschluss ebenfalls von Liedtexten.
Spee, der sich gern mit einer Nachtigall verglich, wollte tagein, tagaus Gottes Lob
singen. Ein Blick in unser Gesangbuch führt uns zu fünf Liedern Friedrich Spees,
von denen vier im Stammteil und eines im regionalen Teil der Landeskirche stehen:
Das Passionslied zur Grablegung Christi O Traurigkeit, o Herzeleid (Evang.
Gesangbuch 80; Gotteslob 188) findet sich erstmals im Mainzer Gesangbuch
Himmlisch Harmony von 1628. Dass Spee die lange als anonym aufgeführte 1.
Strophe dichtete, weiß man erst durch hymnologische Forschungen nach dem 2.
Weltkrieg. Die übrigen Verse dichtete der lutherische Pastor Johann Rist aus
Wedel; der Choral wurde 1988 ins Evangelische Gesangbuch aufgenommen.
Der heiter-jubilierende Osterchoral Die ganze Welt, Herr Jesu Christ,
Halleluja, in deiner Urständ fröhlich ist (Evang. Gesangbuch 110) gehört schon
seit 1950 zum Bestand des Evangelischen Gesangbuchs und findet sich bereits in
den 1930er-Jahren als Frühlingslied in einem Jugendliederbuch. Beide
Liednummern sind in den Gemeinden weitestgehend unbekannt, doch sollten wir
den österlichen Choral, der so eindrücklich Spees Verbundenheit mit der Natur und
allen Phänomenen der Schöpfung zeigt, aus dem Vergessen wieder aktiv in
Gebrauch nehmen!
Ganz anders verhält es sich mit drei Liedern aus dem Weihnachtsliederkreis, die
wohl den meisten Menschen vertraut sind, wobei allerdings die wenigsten sie mit
dem Namen Friedrich Spees in Verbindung bringen dürften. Dies gilt besonders für
zwei Nummern, die auch außerhalb des Gottesdienstes zum weihnachtlichen Liedgut
zählen: Das anbetende Wiegen- und Krippenlied Zu Bethlehem geboren ist uns ein
Kindelein (Evang. Gesangbuch 31; Gotteslob 140) nach der Melodie eines
französischen Volkslieds und Vom Himmel hoch, o Engel kommt, mit Refrain und
Echo. Wir finden es im regionalen Anhang unseres Gesangbuchs unter der Nr. 538,
nicht aber im Gotteslob.
Völlig anderen Charakter als diese beiden lieblich-schwingenden Lieder hat der
Text des Chorals O Heiland, reiß die Himmel auf (Evang. Gesangbuch 7,
Gotteslob 105), dessen Melodie in der Kirchentonart dorisch auf einen lateinischen
Advents-Hymnus zurückgeht. Auch hier spüren wir die Sensibilität des Dichters
gegenüber allen Naturerscheinungen, in denen sich für Spee das göttliche
Heilsgeschehen offenbart. Spee bedient sich archaischer Sprachbilder und greift
auf zunächst fremd anmutende Formulierungen aus dem Propheten Jesaja zurück.
Das über den evangelischen und katholischen Bereich hinaus verbreitete Lied ist
ein wahrhaft ökumenischer Choral, den wir in Gesangbüchern der
deutschsprachigen Schweiz und Elsass-Lothringens sowie übersetzt etwa auch ins
Plattdeutsche und Englische antreffen, erfuhr seit den 1960er-Jahren weite
Verbreitung durch seine Aufnahme in die Weihnachtslieder-Sammlung des
Quempas-Hefts.
In vielen katholischen Gemeinden, so auch in Mainz, werden einige Strophen eines
weiteren Liedes mit seiner ursprünglichen Melodie gesungen, das in unser
Gesangbuch nicht aufgenommen wurde: Bei stiller Nacht zur ersten Wacht ein
Stimm beginnt zu klagen (Gotteslob, Eigenteil Bistum Mainz 805). Das erstmals
1632 als Trawrgesang von der Noth Christi am Oelberg in dem Garten abgedruckte
Passionslied gehört zu Spees "poetischem Urgut", das ihm anders als die Mehrzahl
seiner Dichtungen von Anfang an zugeschrieben wurde. Es gilt als "wertvolles Stück
geistlicher Poesie" und als solches finden wir es bis heute in vielen großen
Gedichtsammlungen.
Friedrich Spee war eine ambivalente Persönlichkeit; bei näherem Besehen wird
jedoch klar, dass sein dichterisches Wirken wie auch seine Sozial- und
Kirchenkritik von einem gemeinsamen Bestreben geleitet wurden: all sein Tun aus
tiefster Frömmigkeit in den Dienst der pastoralen Seelsorge, der liebevollen
Zuwendung zu den Mitmenschen, zu stellen. Bei dieser Mission ließ er sich nicht
bremsen. Sie trug ihn über die von Pesteinbrüchen, konfessionellen Unruhen und
kriegerischen Einfällen geprägten Zeiten hinweg und ließ ihn trotz aller
Hindernisse, die ihm aus Misstrauen und Ablehnung von Mitbrüdern und
Vorgesetzten im eigenen Orden in den Weg gelegt wurden, nicht verzagen.
Annelen Ottermann
Soweit unsere heutige Reise. Im April wollen wir uns wieder im Gemeindehaus auf
dem Lerchenberg treffen, und zwar am 17. April 2023. Aber dazu wird noch eine
gesonderte Einladung verschickt.
Heute wünschen wir Ihnen eine gesegnete Passions- und Osterzeit und grüßen Sie
alle ganz herzlich!
Ihre Karin Kiworr und Annelen Ottermann
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BRIEF JANUAR 2023 JAHRESLOSUNG 2023
Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes,
das neue Jahr 2023 hat begonnen, die ersten Schritte in diesem Jahr haben wir bereits gemacht. Noch liegt es unbekannt vor uns, wie eine unberührte Schneedecke. Aber wie auch der Schnee nur scheinbar unberührt ist – darunter verbergen sich ja Erde, Wurzeln, Steine -, so ist es auch mit dem neuen Jahr: das alte Jahr ist nicht einfach vorbei, sondern wirft sein Licht und seine Schatten in das neue. So wissen wir noch nicht genau, wie es mit Frauenbund und Patientenbücherei weiter geht, wir sind aber zuversichtlich, dass Lösungen gefunden werden, die wir dann mit Ihnen besprechen werden.
Wie in jedem neuen Jahr, so möchte ich auch dieses Mal versuchen, Ihnen die Jahreslosung für 2023 in Wort und Bild nahe bringen.
Sie steht im 1. Buch Mose, Kap. 16, V. 13 und heißt in der Lutherübersetzung: "Du bist ein Gott, der mich sieht".
Dieses Wort stammt aus den sog. Vätergeschichten – Adam und Eva, Kain und Abel, Noah und dann Abraham, Isaak und Jakob. Es sind fast archetypische Erzählungen, in denen Menschen vor Gott geschildert werden – vertrauend, glaubend, aber gleichzeitig zerstörerisch und Schuld auf sich ladend. Abgründe menschlichen Wesens tun sich auf, aber auch wunderbare Möglichkeiten von Hoffnung und Neuanfang.
In dieser Geschichte nun geht es nicht um einen Mann, sondern um zwei Frauen: Sarai und Hagar. Dass Frauen eine so wesentliche Rolle spielen, ist im alten Israel nicht ungewöhnlich, auch nicht, dass sie mit Namen genannt werden, was in der frühen Überlieferung immer eine besondere Bedeutung hat.
In der Vorgeschichte haben Abram und Sarai, die später Abraham und Sarah genannt werden, ihre Heimat verlassen und sind in ein fremdes Land gezogen – nicht als Flüchtlinge, sondern auf Geheiß Gottes hin. Die Zusage Gottes hat sie geleitet. In der Fremde ist ihnen ein Sohn von Gott verheißen worden, der zum Stammvater des Hauses, des Volkes Israel werden soll.
Doch Abram und Sarai werden älter und kein Kind wird geboren. Sarai wird ungeduldig: Eine Magd – Hagar - soll an ihrer Stelle ein Kind Abrams zur Welt bringen – ein damals durchaus übliches Verfahren. Und Hagar wird schwanger. Es wird nun sehr anschaulich – wie so oft im Alten Testament – geschildert, wie Sarai und Hagar aneinander geraten: Da ist Hagar in dem Gefühl der absoluten Überlegenheit: Sie wird es sein, die das ersehnte Kind zur Welt bringen wird, nicht ihre mächtige Herrin Sarai. Und so "achtete sie ihre Herrin gering", wie es im Text heißt. Abram wird eingeschaltet, doch er zieht sich aus der Affäre. Sarai macht der Schwangeren nun das Leben so schwer, dass Hagar schließlich flieht, weit weg in die Wüste.
An einer Wasserquelle macht sie Halt. Und hier ereignet sich die folgenreiche Begegnung mit einem Engel, der ihr und ihrem ungeborenen Sohn Zukunft verheißt, aber auch den Auftrag erteilt, zurückzukehren zu Sarai.
Und Hagar erkennt in dem göttlichen Boten Gott selbst, den sie bei einem Namen nennt: Sie sagt: "Du bist El Roi, (d. h. Gott des Sehens). Denn sie sprach: "Gewiss habe ich hinter dem her gesehen, der mich angesehen hat."
Und damit sind wir bei der diesjährigen Jahreslosung: Stefanie Balinger hat versucht, dieses Wort im Bild zu veranschaulichen. Da sehen wir eine tief gebeugte Frau, kniend, schwer liegt ein Gewand auf ihr. In einer Geste der Verzweiflung hat sie ihre Hände vor das Gesicht geschlagen, sie selbst ist unfähig, etwas wahrzunehmen. Und sie erscheint auf den ersten Blick von hohen farbigen Mauern umgeben zu sein, nur ein weißer Spalt gibt die Mitte frei.
Doch der genauere Blick lässt die Mauern sich auflösen: Die Seite zu ihrer Rechten ist in Blautönen gestaltet: Blau, die Farbe göttlichen Geheimnisses. Und nicht eine Mauer ist es, sondern eher eine Stoffbahn, eine Art Vorhang. Und wenn man noch genauer hinschaut, erkennt man schattenhaft angedeutet eine Gestalt hinter ihr, diesen göttlichen Boten.
Die Seite zu ihrer Linken nimmt noch Blautöne auf, in die sich aber rot mischt: Göttliches und Menschliches gehen ineinander über. Und beide Seiten verändern sich noch oben hin zu einem zarten Gelb, der Farbe des Lichtes.
Ich denke, Stefanie Balinger hat wunderbar in Farbe gestaltet, was der Text aussagt: Da ist die tiefe Verzweiflung der Hagar. Sie wird nicht beschönigt. Aber während sie noch hoffnungslos am Boden kauert, deutet sich hinter ihr bereits die Veränderung an, werden Hoffnungszeichen gesetzt. Sie selbst kauert im Licht, noch bevor sie das wahrnimmt.
Und welch ein wunderbares Wort der Hoffnung ist dann das, was sie ausspricht: "Du bist Gott, der mich sieht." Die deutsche Übersetzung gibt in einem Satz die zwei hebräischen Worte wieder: "El", das ist die Bezeichnung für Gott, ganz allgemein, nicht der dem jüdischen Volk geoffenbarte Name JHWE. Und "Roi" bedeutet "das Sehen" , also "El Roi" wörtlich: "Du bist der Gott des Sehens". Und sie erläutert diesen Satz im Folgenden: "Habe ich auch hier dem nachgeschaut, der mich geschaut hat."
Gott, der Ewige und Unsichtbare, er ist ein Gott, der sieht. Und nicht nur einfach sieht, sondern einen Menschen ganz und gar in den Blick nimmt: die Verzweifelte, die zu Boden Gedrückte, die, die ihren Blick nicht mehr nach oben richten kann – sie wird von Gott angesehen, gewinnt Ansehen vor Gott. Und dieser Blick Gottes eröffnet Zukunft und Hoffnung, schenkt neues Leben. Dieses Sehen Gottes schenkt persönliche Beziehung zu Gott.
Dieses "Sehen" Gottes zieht sich durch die ganze Bibel. Lesen Sie nur einmal den Psalm 139, in dem die sehende Zuwendung Gottes zum Menschen in einzigartiger Weise zum Ausdruck gebracht wird. Und dann nimmt Maria, die Mutter Jesu, dieses "Sehen" im sog. Magnifikat auf, wenn sie sagt: "Du hast die Niedrigkeit deiner Magd angesehen."
Allerdings: es wird kein leichter Weg sein, der Hagar von Gott gewiesen wird. Zurück zu Sarai soll sie gehen, sich gar unter ihre Hand demütigen. Ein Auftrag, der uns Heutigen ziemlich entgegensteht. Aber Gottes Plan ist eben nicht, dass da eine Mutter und ihr noch ungeborenes Kind aus allen sozialen Bindungen herausgelöst werden, sondern dass das Kind und seine Mutter ihren Platz im Hause Abrams haben, so dass die göttliche Verheißung zum Ziel kommt. Gottes Wege mit uns Menschen sind oft Wege, die wir selbst uns vielleicht nicht aussuchen würden. Aber sie zu gehen, heißt, das Wirken Gottes im eigenen Leben zuzulassen, das Wirken, das menschliches Heil im Blick hat.
Hagar erkennt im Nachschauen den Gott, der sie angeschaut hat. Und Hagar wird die Mutter von Ismael (das bedeutet: Gott hat gehört) werden, des Sohnes, der mit Isaak zusammen aufwächst und später zum Stammvater beduinischer Völker werden wird. Im Islam wird sich die Vorstellung durchsetzen, dass Ismael der Stammvater der Araber ist, der erstgeborene Sohn Abrams.
Soviel zu diesjährigen Jahreslosung. Wir wünschen Ihnen von Herzen ein Jahr, das vom Sehen Gottes geleitet wird. Seien sie ganz herzlich gegrüßt!
Karin Kiworr und Annelen Ottermann
BRIEF DEZEMBER 2022 - WEIHNACHTSBRIEF -
Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes,
in der Adventszeit befinden wir uns!
Weihnachten steht vor der Tür. Alles ist in diesem Jahr etwas bescheidener, aber vieles ist doch
wieder möglich: adventliche Feiern, der Weihnachtsmarkt, Gottesdienste (z. T. zwar in recht kalten
Kirchen, aber man kann sich ja warm anziehen!). Und vielleicht erleben manche von uns diese
Vorbereitungszeit auf das Weihnachtsfest bewusster als in anderen Jahren, weil die vergangenen
Jahre gezeigt haben, dass vieles eben nicht selbstverständlich ist. Und natürlich gehen unsere
Gedanken und vielleicht auch Gaben zu den Menschen, die an so vielen Orten unserer Welt leiden
müssen. Denn Weihnachten ist das Fest, an dem Gott sich uns ganz und gar ausliefert, unser Bruder wird, weil er seine Schöpfung liebt und uns ermutigen will, in der Welt das Licht seiner Liebe weiterzugeben.
Während bis zur Reformation die wenigsten Menschen in der Lage waren, die Weihnachtstexte wie
überhaupt die Bibel selbst zu lesen, ist dank der Übersetzung der Bibel ins Deutsche gerade die
Weihnachtsgeschichte so vertraut wie kaum ein anderer Text der Bibel. Die Bibel ist ja nach wie vor eines der meist verkauften Bücher der Welt – aber wie selten wird sie mittlerweile bei uns tatsächlich gelesen! Da ist es doch gut, sich von Annelen Ottermann erinnern zu lassen an die Ursprünge der Bibelausgabe.
Abbildung: Titelblatt des Septembertestaments, Exemplar der WLB. Stuttgart, Signatur: Bb deutsch
152201
Das Newe Testament Deutzsch (Septembertestament) Übersetzt von Martin Luther.
Wittenberg: Melchior Lotter, 1522.
Genau 500 Jahre ist es her, dass Martin Luther seine erste Übersetzung des Neuen Testaments in
deutscher Sprache vorlegte – das so genannte "Septembertestament", benannt nach dem
Erscheinungstermin im Herbst 1522.
Auf der Wartburg hatte Martin Luther seit Mitte 1521 inkognito als "Junker Jörg" Zuflucht
gefunden, stand unter dem Schutz des sächsischen Kurfürsten und war so dem päpstlichen und
kaiserlichen Zugriff entzogen.
Die unfreiwillige Rückzugszeit wurde für ihn zu einer Phase rastloser literarischer Produktivität: So
begann er Ende 1521 auf Anregung Philipp Melanchthons mit der Übersetzung des Neuen
Testaments. Seine Arbeitsgrundlage bildete der griechische Text, der Luther in der Übersetzung
durch Erasmus vorlag. Viel vertrauter und sprachlich deutlich leichter zugänglich war ihm jedoch die lateinische Übersetzung durch Hieronymus, also die Vulgata, auf die er deshalb immer wieder zurückgriff.
Bereits im März des Folgejahres hatte Luther die Übersetzung vollendet und ließ sie Melanchthon
zur kritischen Durchsicht überbringen. Die im Mai 1522 begonnene Drucklegung durch den
Wittenberger Melchior Lotter wurde im September abgeschlossen, so dass das von seinen Freunden Lukas Cranach d. Ä. und Christian Döring verlegte Werk pünktlich zur Leipziger Buchmesse im Herbst 1522 präsentiert werden konnte.
Die Arbeit an der Übersetzung des Alten Testaments nach dem hebräischen Urtext nahm Luther im
Anschluss auf, benötigte allein schon wegen der sprachlichen Hürden deutlich länger hierfür.
Im Vergleich zu den zahlreichen bereits existierenden deutschen vorlutherischen Bibeleditionen
zeichnet sich Luthers Übersetzung durch eine bis dahin unbekannte sprachliche Kraft und
Eindringlichkeit aus – als Stichworte seien hier Sprachrhythmus, Stil, Ausdrucksreichtum,
sprachliche Treffsicherheit und Volksnähe genannt.
Neu und anders ist aber vor allem Luthers interpretierendes Übersetzen, seine auslegende
Textaneignung. Das Neue Testament war für ihn in allen seinen Texten "Evangelium", also Frohe
Botschaft, Verheißung göttlicher Gnade. Es war nicht Gesetz und Lehre wie das Alte Testament,
sondern frohmachende Predigt und erlösende Verheißung. Sein reformatorisches Grundanliegen
verdeutlichte Luther mit seinen Kommentaren und Randbemerkungen, die seine
Rechtfertigungslehre unterstrichen: Der Zugang des Sünders zum Seelenheil werde danach nicht
von der amtskirchlichen Lehrautorität vermittelt, sondern allein durch die Heilige Schrift; an die
Stelle der guten Werke treten allein der Glaube und die göttliche Gnade.
Luther veranlasste die Illustrierung der Bibel mit Holzschnitten, die dem Wort klar untergeordnet
waren, die biblische Botschaft dienend unterstützten und als Verständnishilfen fungierten.
Hervorzuheben sind hier vor allem die 21 ganzseitigen Darstellungen aus der Werkstatt Cranachs
nach Vorlagen von Albrecht Dürer zum letzten Buch der Bibel, der Apokalypse.
Das Septembertestament wurde in einer hohen Auflage von rund 3.000 Bänden gedruckt, die in
kürzester Zeit vergriffen war und schon 3 Monate später durch eine ebenfalls in Wittenberg
gedruckte verbesserte Ausgabe, dem "Dezembertestament" ersetzt wurde. Noch im selben Jahr
entstand der erste Nachdruck in Basel bei Adam Petri, dem sich im Folgejahr weitere Ausgaben
anschlossen.
Luther, der, wie er es später selbst formulierte, "dem Volk aufs Maul geschaut" hat, damit seine
Übersetzung verstanden wurde und das Wort Gottes ohne sprachliche Barrieren zugänglich war, hat mit dem Septembertestament zunächst kein Volksbuch geschaffen, denn der Erwerb dürfte‚ dem gemeinen Mann" kaum möglich gewesen sein: Es kostete zwischen einem halben und 1,5 Gulden – letzteres eine Summe, für die ein Lehrer schon drei Monatsgehälter zusammensparen musste.
Alle am Entstehungsprozess Beteiligten hatten demnach mit der aufwändig gestalteten Ausgabe im Großformat von vornherein zahlungskräftige Abnehmer im Blick. Sie dürften sich aus dem universitären Umfeld von Luthers Anhängern, aber auch seinen Kontrahenten und dem humanistischen Gelehrtennetzwerk rekrutiert haben. Bis zu Luthers Tod 1546 verkauften sich rund 500.000 Exemplare der von ihm übersetzten Bibel in verschiedenen Ausgaben, und damit war die
Mehrzahl der lesefähigen Bevölkerung im Heiligen Römischen Reich dann doch im Besitz des
Textes.
Wie in der Abbildung zu sehen, beschränkte sich das Titelblatt auf den Titel in besonderer
Kalligraphie und den Druckort Wittenberg. Es machte nicht, wie in der Zeit sonst üblich, Werbung
für die besondere Leistung und Qualität des Druckwerks und enthielt vor allem keinen Hinweis auf
seinen Übersetzer. Trotz Luthers Anweisung, wonach der Bibeltext on alle vorrhede unnd frembden
namen erscheinen solle, war das Septembertestament schon in der Wahrnehmung seiner
Zeitgenossen als "Lutherbibel" klar mit seinem Namen verbunden.
Die uns alle so vertrauten Zeilen der Weihnachtsgeschichte nach Lukas von den Hirten auf dem
Feld als den ersten Empfängern der frohen Botschaft durch die Engel (Lk 2, 8–14) lauten in Martin
Luthers Übersetzung von 1522 wie folgt:
8 Unnd es waren hirtten ynn der ſelben gegend auff dem feld, bey den hurtten, unnd hutteten des nachts, yhrer herde,
9 unnd ſihe, der engel des herrnn trat zu yhn, unnd die klarheyt des herren leuchtet umb ſie, unnd ſie furchten ſich ſeer,
1 0unnd der Engel ſprach zu yhn,
furcht euch nich, Sehet, ich verkundige euch groſſe freude, die allem volck widderfaren wirt,
11 denn euch iſt heutte der heyland geporn,
wilcher iſt Chriſtus der herre, ynn der ſtadt Dauid.
12unnd das habt zum zeychen, yhr werdet finden das kind ynn windel gewickellt, unnd ynn eyner krippen ligen,
13 Unnd als bald war da bey dem engel, die menge der hymliſchen heerſcharen, die lobeten Gott, unnd sprachen,
14 Preys ſey Gott ynn der hohe, unnd frid auff erden, unnd den menſchen eyn wolgefallen.
Die Bibelausgabe ist als Faksimile in verschiedenen Ausgaben im Antiquariatsbuchhandel erhältlich
und als Digitalisat frei zugänglich unter http://digital.wlb-stuttgart.de/purl/bsz351727574 (Zugriff:
16.11.2022)
So lassen Sie uns mit den Worten der vertrauten Weihnachtsgeschichte zu der weihnachtlichen
Freude rufen lassen. Wir wünschen Ihnen allen gesegnete Weihnachten und einen guten und
gesunden Übergang in das Jahr 2023!
Ihre Karin Kiworr und Annelen Ottermann
BRIEF NOVEMBER 2022
Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes,
wir befinden uns im November, der sicher einer der wenig geliebten Monate des
Jahres ist. Die Dunkelheit nimmt zu, es wird kälter, die Blumen verblühen und die
Blätter fallen von den Bäumen.
Auch die Themen des Kirchenjahres sind schwere , gewichtige: Allerheiligen,
Allerseelen in der katholischen Kirche, Volkstrauertag, Buß- und Bettag, Toten- oder
Ewigkeitssonntag in der evangelischen Kirche. Und dazu kommt noch das politische
Gedenken an die Verbrechen des 9. November 1938, allerdings auch positiv an den Fall
der Mauer 1989. Also existentiell fordernde Themen in diesem Monat.
Aber ganz unberührt davon ereignet sich auch jedes Jahr etwas unbeschreiblich
Großartiges in dieser Zeit: Ich denke an den Zug der Wildgänse und besonders der
Kraniche in den Süden. Wenn im Oktober und November plötzlich die heiseren,
trompetenden Schreie am Himmel ertönen, dann gibt es wohl kaum jemanden, der
nicht einen Moment innehält, zum Himmel schaut und den Vogelzug beobachtet.
Manchmal kleine Züge, immer in der V-förmigen Formation, oft aber riesige
Vogelscharen, die sich verzweigen, wieder zusammenfinden, scheinbar schwerelos ihre
Bahnen ziehen.
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Bildquelle: Herbstzug der Kraniche, Nabu
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Ich weiß nicht, wie es Ihnen dabei geht, aber mich selbst berührt es jedes Mal ganz
tief, wenn ich einen solchen Zug entdecke. Es ist ein Gefühl von Leichtigkeit und
Ehrfurcht, ein Staunen darüber, dass auf geheimnisvolle Weise die Vögel ihre Wege
kennen, in der Lage sind, miteinander zu kommunizieren und fast Unglaubliches zu
leisten vermögen.
Ich selbst habe in diesem Jahr noch einmal mit einer Freundin ein paar Tage in
Wittenberg verbracht und wir sind an einem Tag an den Gülper See gefahren, einem
El Dorado für Vogelliebhaber. Bereits am Tage sind unzählige Wildgänse zu
beobachten, Wildgänse unterschiedlicher Arten, dazu Enten, Blässhühner, Grau- und
Silberreiher. Der ganze See ist voller Leben, voll von den Lauten der verschiedenen
Wasservögel. Und dann wird plötzlich das Schreien laut, eine Wolke von Vögeln
erhebt sich aus dem Wasser, weil ein Fischadler entdeckt worden ist.-
Der Höhepunkt ereignet sich aber am Abend, in dem Zwielicht der Dämmerung: Die
Kraniche versammeln sich auf den Wiesen und Feldern, auf denen sie den Tag
verbracht haben und fallen in riesigen Schwärmen ein, ein Zug nach dem anderen,
einander zurufend, bis sie den See erreicht haben, um dort die Nacht zu verbringen.
Still haben wir beobachtet, staunend und immer wieder neue Kranichzüge entdeckend,
oft nur wenige Meter über uns. Über eine Stunde dauerte das Einfliegen, sogar im
Dunkeln noch, als wir nichts mehr sehen konnten, hörten wir ihre Rufe.
Über Wildgänse ist schon viel geforscht worden, Kraniche dagegen bergen immer
noch viel Geheimnisvolles, obwohl auch da in den letzten Jahren mehr bekannt wurde.
Aber sie sind eben äußerst scheu und es braucht unglaubliche Geduld, um zu
aussagekräftigen Aussagen zu kommen.
Der Kranich (Grus grus), auch Grauer Kranich oder Eurasischer Kranich, ist ein
Vertreter der Familie der Kraniche (Gruidae). In Europa kommt er weitgehend als
einzige Kranichart vor. Kraniche bewohnen Sumpf- und Moorlandschaften in weiten
Teilen des nördlichen und östlichen Europa. Sie nehmen das ganze Jahr über sowohl
tierische als auch pflanzliche Nahrung auf. Der Bestand hat in den letzten
Jahrzehnten stark zugenommen, so dass die Art zurzeit nicht gefährdet ist.
Die Schönheit der Kraniche, ihre spektakulären Balztänze und ihr gut zu
beobachtender Zug haben schon in früher Zeit die Menschen fasziniert. In der
griechischen Mythologie war der Kranich Apollon und Hermes zugeordnet. Er war ein
Symbol der Wachsamkeit und Klugheit. In Schweden hat er den Namen "Vogel des
Glücks" erhalten, weil er im Frühjahr die Rückkehr von Licht und Wärme ankündigt. In
der Heraldik ist der Kranich das Symbol der Vorsicht und der schlaflosen
Wachsamkeit. In der Dichtung steht der Kranich symbolisch für das Erhabene in der
Natur. Legendär ist der sog. Kranichtanz, von Selma Lagerlöf z. B. in ihrem Buch: "Die
wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen" wunderbar
beschrieben.
Eine bei Kranichen vorkommende Besonderheit ist die Geburtshilfe bei den eigenen
Küken. Wenn die Jungvögel versuchen, die Eierschale zu durchbrechen, treten die
Elternvögel mit ihren Krallen behutsam nach dem Ei, um den Weg nach draußen zu
erleichtern. Für dieses Verhalten existieren allerdings nur wenige Filmaufnahmen.
Ja, und dann ereignet sich eben jedes Jahr zweimal der Zug der Kraniche.
Mittlerweile sind verschiedene Flugrouten und auch Rastplätze bekannt. Im Herbst
sind die Kraniche auf dem Weg aus ihren Brutgebieten, die sich über riesige Bereiche
des nördlichen Europa und Asiens erstrecken, in ihre Überwinterungsgebiete. Die
Elternvögel zeigen dabei den Jungen den Weg. Kraniche fliegen entlang schmaler
Zugrouten in ihre Winterquartiere, die z. B. in Spanien und Nordafrika liegen.
Jedes Jahr ziehen bis zu 250.000 Vögel (!) über Hessen und Rheinland-Pfalz. Mit
ihren lauten Rufen, mit denen sich die Kraniche verständigen, sind die Zugvögel schon
von Weitem zu hören. Sie können bis zu 4000 km zurücklegen, bis sie am Ziel sind. Pro
Tag fliegen sie je nach Witterung und Windverhältnissen 100-200 km. Nicht alle
nehmen allerdings die Strapazen des langen Fluges auf sich. Ähnlich wie bei den
Wildgänsen ist auch bei den Kranichen eine Tendenz zu beobachten, sich in
Brutgebieten – etwa im Norden Deutschlands – niederzulassen. Man schätzt ihre Zahl
auf etwa 11.000 in Deutschland.
Aber woher die Kraniche Jahr für Jahr ihren Weg wissen, das ist bisher noch nicht
wirklich geklärt. Es bleibt immer noch vieles im Dunkeln.
Warum habe ich das alles erzählt?
Ich denke, es kann zum einen noch einmal mehr den staunenden Blick öffnen für
Wunderbares in Gottes Schöpfung – gerade auch in der Dunkelheit des Herbstes. Und
mir hilft es, etwas Distanz zu gewinnen zu all dem Unerfreulichen, das sich in unserer
Welt ereignet.
Zum anderen aber wird der Kranich sogar einmal in der Bibel genannt. Und zwar als
Beispiel für uns Menschen: "sus agur" wird mit "Kranich" übersetzt (wobei diese
Übersetzung nicht ganz sicher ist, denn das Wort kommt nur einmal in der
hebräischen Bibel vor). Er wird zusammen mit dem Storch, der Turteltaube und der
Schwalbe genannt, die, so sagt es der Prophet Jeremia in göttlichem Auftrag, "ihre
Zeit einhalten; aber mein Volk will das Recht des Herrn nicht wissen".
In der wachsenden Glaubenslosigkeit unserer Zeit ist es vielleicht gut, darüber
nachzudenken, wie es immer wieder neu zu entdecken gilt, wo Gottes Wille Leben
öffnen will.
So grüßen wir Sie heute ganz herzlich und wünschen Ihnen eigene Möglichkeiten, die
Vögel und vielleicht die Kraniche am Himmel zu sehen.
Ihre Karin Kiworr und Annelen Ottermann
BRIEF OKTOBER 2022
Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes,
nun hat der Herbst unübersehbar begonnen. Zwar ist es zur Zeit ja noch recht mild draußen, aber die Herbstfärbung der Bäume ist von oft atemberaubender Schönheit. Und die letzten Herbstblumen zeigen sich in ihrer ganzen Farbenpracht. Äpfel, Nüsse, Quitten werden oder sind schon geerntet, die Felder bereits umgepflügt. Dass die Lage in der Welt bedrohlich und voll von ungelösten Problemen ist, wissen wir alle. Und der Winter wird der dritte bei uns sein, in dem Corona uns beschäftigt. Da ist es doch schön, dass Annelen Ottermann uns wieder zu einem Gang durch das Gesangbuch einlädt. Der Blick in eine andere Zeit und Welt hilft manchmal, etwas Distanz zu den eigenen Problemen zu gewinnen.
Hier also die Reise durch’s Gesangbuch, Folge 11: Heinrich Schütz, der größte Kirchenkomponist vor Johann Sebastian Bach.
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Abb.: Heinrich Schütz, Gemälde von Christoph Spätner, um 1660 (Wikipedia)
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Vor 350 Jahren starb er in Dresden, Heinrich Schütz, der nach dem Jurastudium in Venedig eine Ausbildung zum Musiker absolvierte, in Kassel Hoforganist war und in Dresden als Hofkapellmeister wirkte. Gemeinhin gilt er als der größte Kirchenkomponist vor Johann Sebastian Bach und als erster deutscher Komponist von europäischem Rang. Auch im Evangelischen Gesangbuch hat er seine Spuren hinterlassen, denen wir in der 11. Folge unserer Reise nachgehen wollen. Zeitgenosse von Paul Gerhardt, der wie dieser die Schrecken des Dreißigjährigen Kriegs, das immer wiederkehrende Wüten von Seuchen und persönliche Schicksalsschläge erlebte und heute mit ihm zu den Säulen der protestantischen Kirchenmusik zählt, hat er dessen Dichtung doch zeitlebens kritisch und mit einer gewissen Herablassung bewertet und ist der persönlichen Begegnung mit ihm bewusst aus dem Weg gegangen. Schütz wurde 1585 in Köstritz geboren, wo sein Vater ein angesehener Gasthofbesitzer war und wuchs nach dem Umzug der wohlhabenden Familie in Weißenfels (Sachsen-Anhalt) auf. Der musikalisch begabte Knabe wurde durch Landgraf Moritz von Hessen-Kassel gefördert und am Collegium Mauritianum, der Kasseler Hofschule, unterrichtet. Hier kam Heinrich auch erstmals mit italienischer und deutscher Renaissancemusik in Berührung. Seinen Wunsch, Musiker zu werden, konnte er nicht unmittelbar realisieren, da seine Eltern den daraus resultierenden sozialen Abstieg und die wirtschaftliche Unsicherheit durch ein Jurastudium ab 1609 in Marburg zu verhindern suchten. Bereits 3 Jahre später ermöglichte der Landgraf ihm jedoch ein dreijähriges Stipendium in Venedig, wo Schütz bei Giovanni Gabrieli in Komposition, Orgelspiel und Aufführungspraxis unterwiesen wurde und 1611 als Frucht und Gesellenstück dieser Ausbildung das Madrigalbuch Il primo libro di Madrigali (Opus 1) vorlegte. Seiner anschließenden Anstellung als Hoforganist in Kassel folgte 1615 die Ernennung zum Kapellmeister am Hof des sächsischen Kurfürsten in Dresden, wo er in der Nachfolge von Michael Praetorius für Gottesdienste und Staatsrepräsentationen komponierte sowie verantwortlich für die Organisation der Hofmusik war und die Aufsicht über das gesamte ausführende Personal inne hatte - es sollte dies die erste Position sein, die von seiner Familie akzeptiert wurde.
Wirtschaftliche Probleme, zunehmende Verelendung und ein insgesamt desolater Zustand der Dresdener Hofkapelle ließen Schütz zu alternativen Tätigkeiten greifen. So arbeitete er in Kopenhagen als dänischer Oberkapellmeister und übernahm auch Beratungsfunktionen an verschiedenen deutschen Fürstenhöfen. Die Kenntnis des italienischen Kompositionsstils des Frühbarock, die er 1628 in einem zweiten ganzjährigen Aufenthalt in Venedig vertiefte, zeitigte ihre Früchte bei der Übertragung auf die deutsche Musikpraxis. Doppelchörige Madrigale wurden zum Markenzeichen der Schütz‘schen Kompositionen, in denen der Wechselgesang in lateinischer und vor allem deutscher Sprache nach den italienischen Anfängen, die Abkehr von beliebiger Instrumentierung und der gezielte Einsatz von Instrumenten ihren Höhepunkt erreichten. Von den Werken, die in den folgenden Jahrzehnten erschienen, seien hier nur die Symphoniae sacrae, die Musikalischen Exequien, die Geistliche Chormusik, drei Passionen, die Weihnachtshistorie und die vielfache musikalische Übertragung des Psalters und anderer Bibeltexte in Motetten und anderen Formaten erwähnt. Heinrich Schütz, der seine späten Jahre wieder in Weißenfels verlebte, starb 1672 hochbetagt in Dresden: seine Grabstätte in der Frauenkirche wurde beim Brand 1727 zerstört. Schlagen wir im Evangelischen Gesangbuch nach, so finden wir sechs Choräle, deren Melodien von Heinrich Schütz stammen. Es sind dies: EG 259 – Kommt her, des Königs Aufgebot EG 276 – Ich will, solang ich lebe EG 295 – Wohl denen, die da wandeln EG 356 – Es ist in keinem andern Heil EG 357 – Ich weiß, woran ich glaube EG 461 – Aller Augen warten auf dich, Herre. Uns interessieren hier vor allem die drei Lieder, bei denen Schütz nicht allein die Melodie schrieb, sondern auch den vierstimmigen Satz verantwortete: War es bei Nr. 461 der 145. Psalm, den er hier 1657 vertonte, so legte er in den Nummern 276 und 295 Texte aus dem Psalter des Cornelius Becker zugrunde.
Der Leipziger Theologieprofessor und Kirchenlieddichter Cornelius Becker hatte 1602 mit seinem Psalter Davids Gesangweis das lutherische Gegenstück zum calvinistisch geprägten Liedpsalter des Ambrosius Lobwasser geschaffen. Erst durch Heinrich Schütz‘ Vertonung sollten diese zunächst ohne Melodien erschienenen Verse Beckers Berühmtheit erlangen. Schütz selber bezeichnete diese Kompositionen als "Trösterin meiner Traurigkeit" – war doch wenige Jahre zuvor seine Frau Magdalena Wildeck gestorben. Für Ich will, solang ich lebe schrieb Schütz bereits 1628 den Chorsatz, der Eingang in sein Opus 5 Beckerscher Psalter I fand, während Wohl denen, die da wandeln erst 1661 im Opus 14, der revidierten Zweitfassung Beckerscher Psalter II erschienen. Wohl denen, die da wandeln – dieser Choral dürfte den meisten von uns konfessionsübergreifend geläufig sein. Er wird am häufigsten in unseren Gottesdiensten gesungen, allerdings fast nie in der vierstimmigen Version. Das ist bedauerlich und sollte sich ändern. Denn mehrstimmig zu singen, ist ein beglückendes Erlebnis, das werden alle Chorerfahrenen bestätigen! Und auch ohne selbst in einem Chor zu singen, kann man sich der Wirkung der Harmonien nicht entziehen, wird von ihnen umgeben und warm umhüllt. So mögen auch uns solche Lieder ermutigen und trösten!
Für heute grüßen wir Sie ganz herzlich! Bleiben Sie behütet auf Ihren Wegen!
Karin Kiworr und Annelen Ottermann
BRIEF SEPTEMBER 2022
Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes,
nachdem der letzte Rundbrief sich mit zwei Bäumen beschäftigt hat, die in der Bibel
eine besondere Rolle gespielt haben, und wir uns im Anschluss daran im Dommuseum zu
der sehr interessanten Ausstellung: "Rosen, Tulpen, Nelken … und der
Würzwisch" getroffen haben, soll dieser Rundbrief uns einer Frau begegnen lassen, die
im Jahr 1098 geboren wurde und am 17. September 1179 starb. Auch sie zeichnete aus,
dass sie in besonderem Maße Pflanzen kannte und von ihrer Heilwirkung wusste. Es ist
Hildegard von Bingen.
Über tausend Jahre trennen uns von dieser Frau, die in ein bewegtes Zeitalter hinein
geboren wurde. Als 8-Jährige war das Mädchen von den Eltern in die Nonnenklause des
Benediktinerklosters Disibodenberg gebracht worden. Der Name "Klause" sagt aus, was
das bedeutete: eine Einsiedelei, die
an das Kloster angeschlossen war.
Mauern umschlossen einen Wohn- und
Gebetsraum und öffneten sich nur
einem kleinen Garten und dem
Kirchenschiff. In die Welt draußen
führte kein Weg mehr. In dieser
Klause wurde 1136 zur Magistra
gewählt. (Mitglieder aus Frauenbund
und Mitarbeitende in der
Patientenbücherei haben übrigens vor
einigen Jahren die Klosterruinen des
Disibodenbergs besucht – ein beeindruckendes Zeugnis frühen Klosterlebens!) Mit dem
dortigen Abt Kuno von Disibodenberg kam es allerdings immer wieder zu
Auseinandersetzungen, weil Hildegard die strenge Askese zu lockern versuchte. Nach
vielen Widerständen gründete sie das Kloster Rupertsberg und – weil die Zahl der
Nonnen stetig zunahm – kaufte sie schließlich das damals leerstehende Kloster Eibingen,
in dem bis heute Nonnen, die Hildegardschwestern, leben.
Von Rupertsberg aus übernahm sie ausgedehnte Reisen, auf denen sie in Klöstern und
Städten predigte, vor Klerikern, Gelehrten ebenso wie vor dem einfachen Volk. Und von
hier aus schrieb sie mutige politische Briefe u. a. an zwei Kaiser und an vier Päpste.
Was ist nun das Besondere, ja Einmalige dieser Frau? Was ist es, das heute in unserer
Zeit eine richtige Hildegardbewegung entstehen ließ?
Einiges soll hier genannt werden: Hildegard gilt als erste deutsche Mystikerin. Sie war
aber außerdem Naturforscherin, Dichterin, Komponistin, Theologin, Predigerin,
Prophetin und Äbtissin.
Als "ungelehrt" hat sie sich in ihren Visionen trotzdem selbst bezeichnet. Doch sie
wurde unterrichtet: Zuerst und vor allem von einem Mönch aus dem Männerkloster auf
dem Disibodenberg: Volmar. Er wurde ihr Gehilfe, schrieb ihre Diktate in lateinischer
Sprache auf und unterwies sie in theologischen Themen, den Lehren der Kirchenväter,
der Liturgie.
Das Werk von ihr, das mit Sicherheit auf sie zurück geht, ist "Scivias – Wisse die
Wege". In großartigen Visionen und Bildern wird der Weg Gottes mit der Menschheit
geschaut. Im Mittelpunkt ihrer Theologie
steht die leidenschaftliche Liebe Gottes
zu seiner Schöpfung. Doch Hildegard
zufolge hat der Mensch seine Rolle in der
Schöpfung missbraucht: er hat
missachtet, dass "jedes Geschöpf mit
einem anderen verbunden und jedes
Wesen durch ein anderes gehalten
wird." Wenn das geschieht, stimmen die
Elemente ein Klagelied gegen den
Menschen an. "Wir können nicht mehr
laufen und unsere Bahn nach unseres
Meisters Bestimmung vollenden. Denn die
Menschen kehren uns mit ihren
schlechten Taten wie in einer Mühle von
unterst zuoberst … nun sind alle Winde
voll vom Moder des Laubes und die Luft
speit Schmutz aus, so dass die Menschen
nicht einmal mehr den Mund aufzumachen
wagen. Auch welkte die grünende
Lebenskraft durch den gottlosen
Irrwahn der verblendeten
Menschenseelen. Nur ihrer eigenen Lust
folgen sie und lärmen "wo ist denn ihr
Gott, den wir niemals zu sehen bekommen?" Diese Worte schrieb sie vor über tausend
Jahren im zweiten Teil ihrer Visionstrilogie, dem "Liber vitae meritorum"!
Doch neben ihren großen visionären Schriften verfasste sie auch naturmedizinische
Texte. Zwei große Werke werden auf sie zurückgeführt: "Physica "und "Causae et
Curae". Allerdings haben da spätere Abschreiber die Texte zum Teil verändert oder
ergänzt, so dass nicht mehr mit Sicherheit festzustellen ist, was ursprünglich aus ihrer
Feder stammt und was erweitert wurde. In diesen naturwissenschaftlichen Werken hat
Hildegard wohl volkskundliches Wissen, eigene Beobachtungen und Anregungen von
antiken, arabischen und frühmittelalterlichen Autoren verarbeitet.
Frauen konnten damals zwar nicht studieren, eigneten sich aber z. T. profunde
medizinische Kenntnisse an, wie etwa die Klosterfrauen Roswitha von Gandersheim,
Gertrud und Mechthild. Vereinzelt gab es sogar im europäischen Gebiet Lehrinnen der
Heilkunde, eine von ihnen, Trotula, schrieb ein gynäkologisches Nachschlagewerk. Mit
den Hexenverfolgungen allerdings erlitten die Frauen im Gesundheitsbereich einen
schweren Rückschlag. Zur Zeit von Hildegard aber wurde an eine Existenz von Hexen
noch nicht überall geglaubt, die Verfolgungen setzten später ein.
Hildegard war von einer heilenden Wirkung bestimmter Steine überzeugt, vor allem
aber lag ihr die Ernährung am Herzen. Pflanzen konnten hilfreich sein, heilend, aber
auch gefährlich.
Ich möchte hier auf die Getreideart Dinkel eingehen, die in ihrer Ernährungslehre einen
zentralen Platz einnimmt und mittlerweile ja in Supermärkten, Reformhäusern,
Naturkostläden und – verarbeitet – in Bäckereien zu finden ist.
Dinkel gehört zu den ältesten Getreidesorten der Menschheit, ist eine Urform des
Weizens. Bereits 2500 a.C.n. wurde er im Rheinland angebaut.
Hildegard schreibt dazu in der "Physica": Der Dinkel ist das beste Getreide, und er ist
warm und fett und kräftig, und er ist milder als andere Getreidearten, und er bereitet
dem , der ihn ißt, rechtes Fleisch und rechtes Blut und er macht frohen Sinn im Gemüt
des Menschen......Und wenn einer so krank ist , daß er vor Krankheit nichts essen kann,
dann nimm die ganzen Körner des Dinkel und koche sie in Wasser, unter Beigabe von
Fett und Eidotter, so daß man ihn des besseren Geschmacks wegen gern essen kann,
und gib ihn dem Kranken zu essen, und es heilt ihn innerlich wie eine gute und gesunde
Salbe.
Hildegard geht auf die Wirkung von Gewürzen ein, gibt Ratschläge, welche Kräuter bei
welchen Beschwerden hilfreich sein können. Aber all ihr Wissen bleibt eingebettet in
ihren Glauben. Sie sieht den Menschen als Teil des kosmologischen Zusammenhangs. Er
hat von Gott den Auftrag, seinem Körper und seiner Seele Gutes zu tun, damit er seine
irdischen Aufträge erfüllen kann. Maßhalten in allen Lebensbereichen, harmonisches
Gleichgewicht zwischen Seele und Körper fördern Heilung und Gesundheit.
Sie selbst verfügte zeitlebens nie über eine stabile Gesundheit, wurde immer wieder
wochenlang auf das Krankenlager geworfen. Und trotzdem wurde sie 81 Jahre alt. Sie
starb in den frühen Morgenstunden am 17. September 1179, im Kloster auf dem
Rupertsberg.
Vieles von dem, was Hildegard damals entwickelt hat, ist in den vergangenen Jahren
wiederentdeckt worden, vor allem in alternativen Therapieformen.
"Hildegardmedizin" wie auch von ihr bevorzugte Gewürze können im Internet bestellt
werden, ebenso wie Kochbücher nach Hildegard (die aber nicht von ihr stammen).
Manches erscheint uns heute sehr fremd, vieles ist aber von erstaunlicher Zeitlosigkeit.
Und der tiefe visionäre Glaube, ihr umfangreiches Wissen, ihre Hinwendung zu Gott
und ihren Mitmenschen können uns heute durchaus zum Nachdenken bringen und
Vorbild sein.
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Literatur: Hildegard von Bingen – Physika (übersetzt von Marie-Louise Portmann, Freiburg 1993
Hildegard von Bingen, Wisse die Wege – Scivias, übersetzt von Maura Böckeler, Salzburg 1975,
Hildegard von Bingen, Das Buch der Lebensverdienste (Liber vitae meritorum), übersetzt von Heinrich Schipperges,
Freiburg 1994
Fotos: Hildegard von Bingen (Wikipedia)
Klosterruine Disibodenberg (Ingo Ottermann)
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Nach diesem Ausflug in die Geschichte erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zur
Zukunft unseres Frauenbundes. Vom Dekan, der ja mit den Oberstadtgemeinden eine
mögliche Trägerschaft für die Patientenbücherei besprechen wollte, liegt noch keine
Nachricht vor. Er plante, nach den Sommerferien diesbezüglich tätig zu werden.
Annelen Ottermann und ich wollen uns Mitte September noch einmal schriftlich an ihn
wenden und wir hoffen, dass eine Lösung gefunden wird.
Ich hoffe, Sie alle haben in diesem Sommer trotz der Hitze viel Schönes erlebt! Wir
grüßen Sie ganz herzlich und wünschen alles Gute und Gottes Segen!
Karin Kiworr und Annelen Ottermann
BRIEF JULI / AUGUST 2022
Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes,
dieser Brief wird manche von Ihnen in der Urlaubszeit erreichen. Deswegen wird nun für die
Monate Juli und August auch nur ein Brief versendet werden. In diesem Jahr scheint zwar alles
nicht mehr so von Corona bestimmt zu sein wie in den vergangenen zwei Jahren, aber die
Unsicherheit ist doch nach wie vor groß. Auf der einen Seite ist der Hunger nach Reisen, nach
Festen und Zusammensein riesig – denken wir nur an die Tage in Mainz, in denen das Rheinland-
Pfalz-Jubiläum oder das Johannesfest gefeiert wurden –, auf der anderen Seite aber haben
viele Angst vor Ansteckung. Und die sonstigen Nachrichten, das Weltgeschehen betreffend,
sind nun wirklich auch nicht ermutigend.
Aber mir geht es so, dass ich gerade deswegen viel bewusster wahrnehme, wie wohltuend und
schön vieles ist, was in der Natur immer noch so wunderbar zu entdecken ist – vom Gesang der
Nachtigallen, den ich noch nie so intensiv gehört habe wie in diesem Jahr – über die
Wiesenblumen bis hin zu den Bäumen in ihrer ganzen Majestät. Ich weiß, dass all das nicht
selbstverständlich ist – sehen wir doch jeden Tag, wie bedroht unsere Schöpfung ist, gerade
wenn wie jetzt die Natur unter der Dürre und Hitze leidet. Aber umso mehr will ich mich an
dem freuen, was sich mir an Schönheit zeigt und bewahren, was mir möglich ist.
Und nun soll uns auch dieser Brief einmal wieder in die Natur führen: in eine lang
zurückliegende Zeit und Welt, in die Welt biblischer Pflanzen. Vor allem 2 Bäume möchte ich
Ihnen diesmal vorstellen, die in der Bibel eine besondere Rolle gespielt haben:
Der eine Baum ist die Terebinthe. Wenn Sie in einer Biblischen Konkordanz nachschauen,
werden Sie die Terebinthe nur einmal genannt sehen. Aber tatsächlich kommt sie häufiger vor,
ihr Name wurde nur nicht immer richtig übersetzt. Elah ist der hebräische Name. Fünf Arten
von Terebinthen sind bekannt, aber nur eine ist es vermutlich, die auch in der Bibel begegnet,
nämlich die atlantische Terebinthe (Pistacia atlantica).
Was ist nun das Besondere an diesem Baum: Es ist seine majestätische Größe. Die Terebinthe
ist wohl der mächtigste Baum im palästinensischen Raum, ein immergrüner Baum, dessen breit
ausladende Zweige Schatten spenden. Er ist ein Baum, der auch im trockenen Klima gedeiht,
vor allem im Negev, dem südlichen kargen Gebiet Ísraels, und in Galiläa.
Sein Nutzwert ist gering: Er trägt zwar kleine rote Steinfrüchte, die aber zum Verzehr wenig geeignet sind, weil sie bitter sind.
Aus den Samen allerdings kann Terebinthenöl gewonnen werden. Interessant sind durch ein Insekt erzeugte sog. Blattgallen,
die auch Pistazien- oder Terpentingallen oder auch Judenschoten genannt werden und zum Färben von Seide verwendet werden.
Allerdings ist das in der Bibel nicht bezeugt.
In der Bibel ist etwas ganz anderes von Bedeutung. Wir finden hier gewissermaßen eine
Schnittstelle zwischen früher israelischer Geschichte und den umliegenden heidnischen Kulten.
In den Erzählungen aus der Frühzeit Israels wird die
Terebinthe als ein besonderer Ort genannt: So begräbt Jakob den Laban unter einer Terebinthe bei Sichem (1. Mose 35, 4),
es erscheint ein Engel unter einer Terebinthe (Ri. 6, 11), David erschlägt den Goliath im "Terebinthental" (1. Sam. 17, 2),
Davids Sohn Absalom stirbt, als sein Haar sich in den Zweigen einer Terebinthe verfängt (2. Sam. 18, 9)
und König Saul und seine Söhne werden unter einer Terebinthe begraben (1. Chronik 10, 12).
Auch ist in dem Namen "elah" die Gottesbezeichnung verborgen (Elohim).
In den frühen Kulturen Palästinas wird aber immer die Terebinthe selbst als heiliger Baum verehrt.
Ihre Größe macht sie verehrungswürdig, die schattenspendenen Äste verleihen ihr eine
Schutzfunktion. In der Regel wird unter der Terebinthe aus Steinen ein Altar errichtet, eine
Stele repräsentiert die Gottheit. Es sind heilige Orte, häufig auch als Grabstellen genutzt.
Für die Menschen Israels aber ist kein Baum an sich heilig. Allein die Gegenwart des
unsichtbaren Gottes bewirkt die Heiligkeit eines Ortes. Zwar erzählt auch die Bibel in den sog.
Vätergeschichten davon, wie aus Steinen Opferaltäre gebaut werden, aber der Ort selbst
besitzt keine göttliche Qualität.
Weil aber die Bewohner Israels und später Judas sich von den heidnischen Gebräuchen der
Umwelt immer wieder beeinflussen lassen, gelten die Warnungen der Propheten solcher Abkehr
von Gott: So sagt der Prophet Hosea: "Sie feiern Schlachtopfer auf den Höhen der Berge, auf
den Hügeln bringen sie Rauchopfer dar, unter Eichen, Storaxbäumen und Terebinthen, deren
Schatten so angenehm ist. So werden eure Töchter zu Dirnen und eure Schwiegertöchter
brechen die Ehe." (Hosea 4, 13). Es lässt sich erahnen, wie der Glaube an den e i n e n
unsichtbaren Gott durch die Jahrhunderte hindurch in Frage gestellt wurde durch die
scheinbar viel einfacheren Göttervorstellungen der umliegenden Völker.
Die Terebinthe also: ein besonderer, nicht aber heiliger Baum.
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Baum, den ich vorstellen möchte: Es ist die Eiche.
Sie werden sich vielleicht fragen: was hat eine Eiche mit Israel zu tun? Gilt doch gerade die
Eiche als ein genuin deutscher Baum!
Er hat sicher auch in Deutschland eine lange Geschichte, denken wir nur an die Donareiche, die
Bonifatius gefällt und damit der Christianisierung Germaniens
einen ersten Höhepunkt gegeben haben soll.
Aber tatsächlich spielte die Eiche in einer Vielzahl von Kulturen eine bedeutende Rolle.
Immerhin existieren etwa 450 Eichenarten. Die Eiche kann bis zu 25 Metern hoch werden und
der Kronenumfang kann bis zu 20 Metern reichen. Gerade diese mächtigen Bäume wurden religiös verehrt – bei Kelten und Griechen ebenso wie in der Bevölkerung Palästinas. Dort war auch die Eiche – unter anderen die sog. Taboreiche – wie die Terebinthe ein heiliger Baum. Sie galt – anders als die Terebinthe – als "Nährbaum" wegen ihrer Früchte. Wenn reichlich Eicheln vorhanden waren, deutete das auf eine gute Ernte hin. Und die Eichenblätter sollten bösen Zauber abwehren. Auch in der Bibel wird die Eiche – es handelt sich dabei ebenfalls meist um die Taboreiche – an vielen Stellen genannt.
Ihre hebräische Bezeichnung "alon" ist sogar häufig in Ortsbezeichnungen eingegangen. Auch in Israel ist sie ein besonderer Baum. Aber was für die Terebinthe galt, gilt auch hier. Sie ist ein besonderer, aber kein heiliger Baum. Positiv wird sie bei einem wichtigen Ereignis in der
Geschichte Israels genannt: Es ist der sog. Landtag und Bundesschluss in Sichem.
Da heißt es: "Und Josua schrieb alle diese Worte in das Bauch des Gesetzes Gottes und er nahm einen großen Stein und richtete ihn dort auf unter einer Eiche , die bei dem Heiligtum des Herrn steht. Dabei sagte er zu dem ganzen Volk: Siehe, dieser Stein soll Zeuge sein unter uns, denn er hat gehört alle Worte des HERRN, die er mit uns geredet hat, und soll ein Zeuge unter euch sein, dass ihr euren Gott nicht verleugnet." (Josua 24, 26ff).
In anderem Zusammenhang wird die Eiche in einer der Vätergeschichten, bei Jakob, genannt.
Da begräbt Jakob unter der Eiche von Sichem alle fremden Götterbilder. Sichem war bereits
in vorisraelischer Zeit ein heiliger Ort. Und "das Vergraben von Götterbildern an einer heiligen
Stätte stellte eine bewußte Abwendung von der bisher praktizierten Glaubenshaltung dar.
Abgelegte Kultbilder durfte man nicht einfach wegwerfen oder einschmelzen. Da man ihnen
weiterhin eine mächtige Wirkung zuschrieb, mussten sie an einem heiligen Ort kultisch
bestattet werden" (Kawollek, S. 86).
Und später, bei den Propheten, kann die Eiche auch wieder zum Zeichen des Abfalls des Volkes
von Gott werden. Und sie kann Symbol für den drohenden Untergangs werden. So heißt es bei
Jesaja: "Ihr werdet in Schande stürzen wegen der Eichen, die euch gefallen, und werdet euch
schämen wegen der (heiligen) Haine, die ihr so gerne habt. Ihr werdet wie eine Eiche, deren
Blätter verwelken, und wie ein Garten, dessen Wasser versiegt ist" (Jes. 1, 29f).
Zwei Bäume also sind es, die auf der einen Seite das Verbundensein mit den umliegenden
Kulturen zeigen, auf der anderen Seite aber das Besondere jüdischen Glaubens. Das von Gott
auserwählte Volk hatte den Auftrag, allein von dem Gott, der sich ihnen auf so einmalige Weise
offenbart hatte, auf seinen Wegen sich leiten zu lassen. Abkehr von Gott, Hinwendung zu
heidnischen Kulten bedeutete Untergang, Vertrauen, Glauben, Halten der göttlichen Gebote
schenkte Zukunft und Hoffnung.
Lit: Wolfgang Kawollek/ Henning Falk: Bibelpflanzen kennen und kultivieren
Michael Zohary: Pflanzen der Bibel
Soweit für heute der Gang in die Natur und Geschichte Israels.
Wir wünschen Ihnen allen eine gesunde und gute Sommerzeit und grüßen Sie herzlich!
Karin Kiworr und Annelen Ottermann
BRIEF JUNI 2022
Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes!
Nun ist schon der Juni angebrochen, mit der ganzen Blütenpracht, der Wärme und dem Licht.
Wie gut tun diese Wochen nach der Kälte und der Dunkelheit des Winters und vor der brütenden Sommerhitze.
Im Frauenbund haben wir uns ja nun Ende Mai endlich wieder einmal getroffen und haben dieses Treffen nach dem gemeinsamen Kaffeetrinken mit wunderbarem Kuchen von Gertrud Gruber (anlässlich ihres 80. Geburtstags) als Mitgliederversammlung gestaltet, die ja eigentlich jedes Jahr stattfinden muss, wegen Corona aber nun 2 Jahre ausfallen musste. Und hier war das wichtige Thema (nach der Entlastung des Vorstands) die Frage, wie es mit unserem Frauenbund weitergehen kann. In der Vorstandssitzung hatten wir eigentlich keine Möglichkeit gesehen, wie er weiter bestehen könnte. Wir haben noch keinen Entschluss gefasst, sondern wollen uns im September mit dem Dekan treffen, um Perspektiven für die Patientenbücherei zu erwägen und dann zeitnah noch einmal zu einer Mitgliederversammlung einladen.
So soll nun erst noch einmal ein Monatsbrief verschickt werden, in dem uns Annelen Ottermann wieder zu einer Reise durch das Gesangbuch einlädt. Und zwar geht es diesmal um den Kanon und da besonders um den Liederdichter Paul Ernst Ruppel.
Viel Spaß beim Lesen!
Freuen wir uns auf das gemeinsame Singen und seien Sie alle ganz herzlich gegrüßt,
Ihre Karin Kiworr und Annelen Ottermann
Stimmen im Kanon: Paul Ernst Ruppel, Vom Aufgang der Sonne
Was ein "Kanon" in der Musik ist, wissen wir alle und haben vermutlich auch sofort die eine oder andere Melodie im Ohr – Volks- und Kinderlieder wie "Es tönen die Lieder", "Froh zu sein bedarf es wenig" oder "Hejo, spann den Wagen an". Aus dem Musikunterricht mögen sich einige auch an die kunstvoll komponierten Kanons zum Beispiel von Wolfgang Amadeus Mozart oder Joseph Haydn
erinnern. Aber hätten Sie gedacht, dass Kanons auch im Evangelischen Gesangbuch (EG) und dem EG plus eine wichtige Rolle spielen? Geht man beide Bücher durch, so kommt man im EG auf 59 Nummern und im EG plus auf weitere 12 Lieder! Das ist ein beachtlicher Anteil, der verdeutlicht, wie beliebt diese musikalische Gattung bis heute ist. Es wäre ein Verlust für den Gemeindegesang, das zu ignorieren und für den Einsatz in der Gemeinde weitgehend auszublenden.
Denn Kanons, das wird schnell klar, sind auch im Bereich des geistlichen Liedguts keine Randerscheinung.
Wir sollten sie viel stärker in den Blick nehmen und vor allem: wir sollten sie SINGEN!
Dass dies vergleichsweise selten geschieht, mag daran liegen, dass unsere evangelischen Kirchen im Regelfall nur sehr locker besetzt sind und man der übersichtlichen Schar der Gottesdienstbesucherinnen und -besucher das chorische Singen nicht zumuten will oder es ihnen auch nicht zutraut. Aber genau hier dürfen wir uns alle musikalisch aus der Deckung wagen und einfach mutig drauf los singen. Stimmen im Kanon sind etwas Wunderbares. Denn sie erzeugen ohne großen Aufwand Mehrstimmigkeit: eine Gattung, "die höchster Gelehrsamkeit […] ebenso genügen kann wie höchst allgemeiner, populärer Geselligkeit, die dem Verständnis des Laien eingängig und der Praxis eines breiten Publikums aller Alters- und Sozialstrukturen gleichermaßen zugänglich" ist. (Hans Jaskulsky).
Foto: Ingo Ottermann
Die 59 Nummern im Haupt- und Regionalteil des Gesangbuchs verteilen sich auf alle Themenbereiche und Anlässe. Besonders stark vertreten sind sie bei den Lob- und Dankliedern, den liturgischen Gesängen und in der Rubrik "Eingang und Ausgang", mit deren Lieder wir uns auf den Gottesdienst einstimmen und von dort wieder in den Alltag entlassen werden. Es gibt Kanons zum kirchlichen Festkreis, zum Tagesablauf und zu besonderen Ereignissen. Viele Texte gehen auf Psalmverse und andere Bibelstellen zurück oder beziehen sich auf älteres Liedgut der Kirche. Bei den Komponisten heben sich einige große Namen des 17. und 18. Jahrhunderts hervor:
Melchior Vulpius, Michael Praetorius und Georg Philipp Telemann. In der Mehrzahl der Fälle aber zeichnen Komponisten des 20. Jahrhunderts für die Melodien verantwortlich. Zu nennen sind hier vor allem Paul Ernst Ruppel, Jacques Berthier, Herbert Beuerle, Johannes Petzold und Bernd Schlaudt.
In den Mittelpunkt unserer 10. Gesangbuchreise rücken wir den am häufigsten vertretenen Paul Ernst Ruppel. Er wurde 1913 in Esslingen in einer freikirchlich-baptistisch geprägten Familie geboren. Bedingt durch die Anstellung des Vaters beim Oncken-Verlag zog man 1924 nach Kassel, wo bei Paul Ernst unter dem Einfluss des Theologen und Kirchenmusikers Walter Blankenburg bereits in jungen Jahren der Entschluss wuchs, selbst Kirchen- und Schulmusiker zu werden. Während seines Studiums an der Stuttgarter Musikhochschule (1933–1936) kam Ruppel in Kontakt mit Richard Gölz – sein damals entstandenes Chorgesangbuch ist bis heute fester Bestandteil in Kirchenchören – und mit Hugo Distler, der Einfluss auf das spätere kompositorische Schaffen Ruppels hatte. Seit 1936 wirkte Ruppel als Singwart für den christlichen Sängerbund; seine Einberufung zum Kriegsdienst unterbrach diese Tätigkeit, die er nach Rückkehr aus der langen Kriegsgefangenschaft 1948 sogleich wieder aufnahm und sie bis 1977 ausübte.
1949 ging Ruppel nach Neukirchen-Vluyn, wirkte mit beim Aufbau eines Schulungszentrums für den Christlichen Sängerbund in Schloss Leyenburg und führte zahlreiche Singwochen in den freikirchlichen Gemeinden durch. Deren Stimme vertrat er später auch in der Arbeitsgemeinschaft ökumenisches Liedgut". Nach dem Umzug des Sängerbunds und seines Verlags nach
Wuppertal-Elberfeld blieb Ruppel in Vluyn ansässig und versah dort ein Jahrzehnt den Organistendienst in der evangelischen Kirchengemeinde. Seine Frau, mit der er seit 1938 verheiratet war und mit ihr fünf Sohne großgezogen hatte, verstarb 1996; er selbst überlebte sie um 10 Jahre, bis auch er 2006 in Neukirchen-Vluyn starb.
Foto: Paul Ernst Ruppel 1996 (Quelle: Wikipedia)
Ruppel gehörte mit Beuerle zu den prägenden
Persönlichkeiten des 1879 gegründeten Christlichen
Sängerbunds (CS). Seit den 1930er-Jahren gehörte der
Sängerbund der Singbewegung an, mit der Ruppel bereits
im Jahr seines Abiturs nachhaltig-prägend in Berührung
gekommen war. Diese musikalische Erneuerung der
1920er-Jahre hatte wesentliche Impulse aus der
Wandervogel-Bewegung, einer liturgischen Erneuerung
und einer gewandelten musikalischen Sprache im
geistlichen Liedgut erfahren. Ein völlig neues
Lebensprinzip, Abkehr vom virtuosen Kulturbetrieb, die
Begründung von Lebens- und Glaubensgemeinschaften,
das Aufblühen der Freikirchen und ein radikaler Bruch mit
der Mehrstimmigkeit der Romantik, der die Betonung der
Einzelstimme entgegengesetzt wurde – dies alles waren
Kennzeichen der Singbewegung. In Absetzung vom professionellen Musikbetrieb wurde der Laienmusik ein zentraler Raum eingeräumt.
Im Christlichen Sängerbund erfuhr das Singen eine völlige Neubewertung. Man sang nicht vor der oder für die Gemeinde, sondern mit ihr. Dem Chor kam die wichtigste Funktion innerhalb der Gemeinde zu, denn er erfüllte einen zentralen Verkündigungsauftrag. Singen war Gottesdienst, weshalb der Text Priorität vor der Musik haben musste und das "Wort als Herrin der Harmonie" galt. Diesem Ansatz fühlte sich auch Ruppel in seinem kirchenmusikalischen Schaffen verpflichtet. Er war ein musikalischer Prediger, der den Chorgesang ganz in den geistlichen Dienst der Gemeinde stellte. In seiner Funktion als Singwart gab Ruppel im Lauf der Jahrzehnte zahlreiche Chorbücher und Singhefte heraus; seine Kompositionen entstanden aus der Praxis seiner Arbeit. Entsprechend dem Grundgedanken des Christlichen Sängerbunds sollten die Lieder das gemeinsame Singen in Gemeinde und Familie anregen, weshalb bewusst einfache Formen gewählt wurden, die auch ohne musikalische Vorbildung unmittelbar umzusetzen waren. Dies war die Stunde des Kanons! Im Evangelischen Gesangbuch sind neun davon aus der Feder Ruppels aufgenommen. Dass Ruppel besonders gern und oft die musikalische Gattung des Kanons für die Interpretation eines Bibeltextes wählte, steht also ganz im Einklang mit der Philosophie des Christlichen Sängerbundes und der Singbewegung. Die "laiengerechte, gemeindenahe Mehrstimmigkeit", der Einsatz einer schlichten Melodie, mit der sich die Einzelstimme im Kanongesang der Gemeinde zu einem mehrstimmigen Klangerlebnis entfaltet, wird denn auch heute in der kirchenmusikalischen Forschung als Ruppels wichtigster Beitrag zum geistlichen Lied in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewertet: Ruppel erfuhr seine stärkste religiöse Prägung, wie er in einer Darstellung seines Lebensgangs formulierte, durch "die Welt und Frömmigkeit der Psalmen", und so war es ihm ein besonderes Anliegen, diese Texte zu vertonen und über den Weg der Musik "die Taten Gottes zum Klingen zu bringen" ein musikalischer Prediger, der den Chorgesang ganz in den geistlichen Dienst der Gemeinde stellte. In seiner Funktion als Singwart gab Ruppel im Lauf der Jahrzehnte zahlreiche Chorbücher und Singhefte heraus; seine Kompositionen entstanden aus der Praxis seiner Arbeit. Entsprechend dem Grundgedanken des Christlichen Sängerbunds sollten die Lieder das gemeinsame Singen in Gemeinde und Familie anregen, weshalb bewusst einfache Formen gewählt wurden, die auch ohne musikalische Vorbildung unmittelbar umzusetzen waren. Dies war die Stunde des Kanons! Im Evangelischen Gesangbuch sind neun davon aus der Feder Ruppels aufgenommen.
1938 komponierte Ruppel "Vom Aufgang der Sonne", zweifellos sein bekanntester Kanon, der die stärkste Verbreitung fand und in mindestens ein halbes Dutzend Sprachen übersetzt wurde. Über die Entstehungsgeschichte berichtet Ruppel, er sei gebeten worden, mit Kindern der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde zu Einbeck im Rahmen des Religionsunterrichts zu singen und habe dafür aus Psalm 113 den 3. Vers "Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang sei gelobet der Name des Herrn" gewählt, der mit einfachen Mitteln musikalisch umsetzbar gewesen sei.
Betrachten wir den Kanon, der sich im Evangelischen Gesangbuch unter der Nummer 456 findet und im katholischen Gotteslob als Nummer 415 aufgenommen ist, etwas genauer: Die 4/4-Takt-Komposition in D-Dur durchmisst einen Oktavraum. Mit den Dreiklängen in Auf- und Abwärtsbewegungen werden der Sonnenlauf vom Morgen bis zum Abend beschrieben und der Wort-Ton-Bezug hergestellt. Im zweiten Teil schwingt sich die Melodie für das Lob Gottes aus der Tiefe in zwei Sequenzen in die Höhe. Denn, so will Ruppel zum Ausdruck bringen, das Loben braucht Übung und bedarf einer gewissen Kraftanstrengung, symbolisiert durch diesen doppelten Aufschwung. Der Komponist äußert sich auch zum Tempo, in dem der biblische Spruchkanon zu vier Stimmen zu singen ist: Da der Vers einen mehrstündigen Prozess beschreibt, empfiehlt er ein langsames Singen, das zudem dem Eindruck eines Glockenspiels erzeugt und quasi zum Gottesdienst einlädt. "Vom Aufgang der Sonne" gehört zu den drei Kompositionen Ruppels im Gesangbuch, die schon während seiner Singwartzeit vor dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Die meisten seiner insgesamt 14 Lieder im EG stammen jedoch aus den 1950er- und 1960er-Jahren – dies waren Ruppels fruchtbarste Liederjahrzehnte, in denen der Komponist nach den Entbehrungen von Krieg und fünfjähriger Gefangenschaft umso schaffensfreudiger war – als gelte es, die verlorene Zeit wieder einzuholen.
Stimmen Sie sich doch schon jetzt ein – spätestens bei unserem nächsten Monatstreffen werden wir den Sonnenkanon singen – natürlich im Chor!
BRIEF MÄRZ 2022
Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes!
Diesmal muß ich Ihnen zunächst eine sehr traurige Mitteilung machen: zwei unserer
Mitglieder, die sehr lange Mitglied im Frauenbund und ganz aktiv in der
Patientenbücherei waren, sind gestorben: Frau Esther Helmtag im Alter von 89
Jahren und Frau Gisela Illman im Alter von fast 98 Jahren. Beiden sind wir so
dankbar für alles, was sie an ehrenamtlicher Arbeit geleistet haben. Sie haben die
Arbeit in der Patientenbücherei mit geprägt und waren an allem interessiert, was den
Frauenbund betraf. Wir vertrauen sie nun unserem Gott an, in dem ihr Leben
aufgehoben ist.
Aber wir alle müssen weiter Dinge erleben, die wir noch vor 3 Jahren für
unvorstellbar gehalten hätten: Zuerst die Pandemie und jetzt dieser entsetzliche
Krieg in der Ukraine. Nein, es ist unbegreiflich, wie Machtgier und Gewaltbereitschaft
menschliches Leben und menschliche Existenzen zerstören können. Und wie machtlos
sind wir als Einzelne! Und trotzdem hoffe und glaube ich, dass unsere Gebete um
Frieden nicht ungehört bleiben. Zu einem neuen Vertrauen sind wir gerufen – gegen
alle Dunkelheit unsere Hoffnung auf Gott zu setzen. Und wir können helfen, Unzählige
tun es. Wenn Sie selbst mit Geld helfen wollen, gibt es viele Hilfsadressen. Eine
nenne ich hier: https://www.diakonie-katastrophenhilfe.de/spende/ukraine.
Dieser Brief wird nun im Ganzen etwas anders sein als die früheren Briefe.
Wir – Annelen Ottermann und ich haben nämlich überlegt, für die Passionszeit und Ostern
nur e i n e n Brief zu verfassen, weil beides untrennbar zusammengehört.
Wir befinden uns ja schon mitten in der Passions- oder Fastenzeit, der Zeit, in der
die Christenheit den Weg Jesu zum Kreuz innerlich mitgeht. Christen bereiten sich
vor und sie tun es auf sehr unterschiedliche Weise: "7 Wochen ohne Stillstand", so
heißt die diesjährige Fastenaktion der evangelischen Kirche. Dieses Motto kann ja
sehr unterschiedlich aufgenommen werden, es lohnt aber, sich darüber Gedanken zu
machen! Dass aber in dieser Zeit auch von evangelischen Christen Verzicht geleistet
wird, ist erst seit einigen Jahren üblich geworden. Und es ist meist sehr individuell,
was 7 Wochen lang besonders beachtet wird. Nicht immer handelt es sich um
Essensverzicht, es kann das Auto sein, das Handy, das Fernsehen, die in dieser Zeit
einmal keine Beachtung finden, es kann aber umgekehrt auch manches sein, was mehr
in den Blick rücken soll – wie beim diesjährigen Motto, das ja wohl uns nicht zu immer
größerer Beschleunigung des eigenen Lebens animieren will, sondern eher ermutigt,
die eigene Trägheit zu überwinden, neue Tiefe des Glaubens zu erfahren.
Ein Blick in die orthodoxe Kirche zeigt uns, wie dort über den Sinn des Fastens
nachgedacht wird. Da heißt es: "Der eigentliche Sinn des Fastens besteht darin, nicht
nur den Körper, sondern auch die Seele zu reinigen und zu entgiften. Man soll alle
bösen Gedanken vertreiben … und auf sämtliche Gelüste verzichten. Wer alles richtig
macht, soll sich nach dem Fasten geistig und körperlich viel wohler fühlen". (Quelle:
www.Russlandjournal.de) Fleisch, Eier, Milchprodukte sollen an bestimmten Tagen
nicht verzehrt werden, an einigen auch kein Fisch, kein Wein und kein Öl. Der Name
für diese besondere Zeit ist die "heilige und große Fastenzeit".
In der katholischen Kirche haben sich im Lauf der Zeit einige Veränderungen
entwickelt. In der Fastenordung für die Bistümer des Deutschen Reiches aus dem
Jahr 1930 wurde beispielsweise Folgendes festgelegt:
"An Fasttagen durfte man nur einmal am Tag eine volle Mahlzeit halten und musste
sich am Morgen und Abend mit einer kleinen Stärkung begnügen. An den
Abstinenztagen hatte man sich jeglicher Fleischspeisen zu enthalten. Eier und Milch,
Schmalz, Grieben und Kunstbutter waren hingegen erlaubt. Auch Fleischbrühe durfte
man (außer am Karfreitag) zu sich nehmen."
Als Fast- und Abstinenztage wurden festgelegt:
- der Aschermitwoch
- die Freitage der 40-tägigen Fastenzeit
- der Karsamstag bis 12 Uhr Mittag
- die Freitage der vier jährlichen Quatemberwochen
In der Fastenordung aus dem Jahr 2020 wird dagegen nicht mehr detailliert
vorgeschrieben, auf welche Weise gefastet werden soll. Es heißt: "Konsequenterweise
bilden Gebet, Fasten und Verzicht sowie Freigebigkeit (Spenden) und Fürsorge
(Nächstenliebe) drei ineinander verschränkte Elemente dieser Einstimmung."
( Quelle: https://bistum-augsburg.de/ Peter C. Düren, die Fastenzeit früher und
heute)
Die Wurzeln für das Begehen der Fastenzeit reichen weit zurück. Sehr früh schon
hatte die christliche Kirche begonnen, diese vorösterliche Zeit in besonderer Weise
zu gestalten. Bereits seit dem 2. Jahrhundert ist ein zweitägiges Trauerfasten an
Karfreitag und Karsamstag bezeugt, das im 3. Jahrhundert auf die ganze Karwoche
ausgedehnt wurde. Im 4. Jahrhundert wurde eine 40-tägige Vorbereitungszeit auf
das Osterfest begangen.
Warum 40 Tage? Die Zahl 40 ist in der Bibel eine heilige Zahl: 40 Tage dauerte die
Sintflut, noch einmal 40 Tage, bis Noah das Fenster der Arche öffnete, 40 Tage
blieb Mose auf dem Berg Sinai, um Gottes Gebote zu empfangen, 40 Jahre dauerte
die Wüstenwanderung des jüdischen Volkes, die aus der Knechtschaft in die Freiheit
führte. Und 40 Tage blieb Jesus in der Wüste, um der widergöttlichen Macht zu
widerstehen. Die Zahl 4 symbolisiert dabei das Weltumspannende, die Zahl 10 das
Vollendete, das Ganze.
Die 40-tägige Fastenzeit beginnt am sog. Aschermittwoch und dauert bis zum
Karsamstag. Ausgenommen sind die Sonntage, weil sie auch in dieser Zeit ein kleines
Osterfest bedeuten. Es ist also eine gewichtige Zeit in allen christlichen Kirchen –
nicht einfach um des Fastens willen, um der Askese willen, sondern weil freiwilliger
Verzicht helfen kann, sich neu auf den Weg Jesu einzulassen, sich auf das tiefste
Geheimnis der Christenheit zu konzentrieren.
Und das ist vielleicht gerade in diesen Monaten wichtig, in denen wir müde von der
nicht endenden Pandemie sind und weltpolitisch in so großer Sorge und Angst, eine
Zeit, in der wir mitleiden und so wenig tun können. Da zeigt uns der Weg zum Kreuz,
dass wir in aller Not nicht alleine sind und dass christliche Hoffnung sich durch das
Kreuz hindurch auf das österliche Licht richtet.
Und jetzt folgt der Inhalt des 2. Teiles unseres Briefes. Da nimmt uns Annelen
Ottermann wieder einmal mit auf eine Reise durch das Gesangbuch.
..........................................................
Codex Egberti (Ende 10. Jh.), Stadtbibliothek Trier, Hs 24
..............................
Auf Entdeckungsreise: Ein Osterlied aus Tansania
Kennen wir unser Gesangbuch wirklich? Ich schlage Ihnen vor, mit mir einmal die hinteren Abschnitte durchzublättern. An den Stamm- oder Hauptteil, der in allen evangelischen Landeskirchen Deutschlands identisch ist, schließt sich der Regionalteil an - für uns ist es derjenige für Hessen-Nassau und für Kurhessen-Waldeck. So weit, so bekannt. Aber was danach kommt, wird kaum mehr wahrgenommen, und doch verbirgt sich hier ein großer Schatz, den zu entdecken und zu nutzen sich wirklich lohnt – sind Sie dabei?
Den Anfang macht ein recht umfangreicher Teil mit Gebeten und Bekenntnissen: eine Auswahl aus den Psalmen, liturgische Texte für den Gottesdienst, die großen Bekenntnisschriften unserer Kirche und, ganz besonders wichtig für uns alle, eine Fülle individuell zu nutzender Gebetsanliegen für die verschiedensten Anlässe, Situationen und Zeiten. Der sich anschließende Abschnitt gibt einen Überblick über den Verlauf des Kirchenjahres und die den einzelnen Sonntagen zugeordneten biblischen Lesungstexte.
Heute wollen wir das letzte Kapitel vor dem alphabetischen Liedregister in den Blick nehmen: die äußerst interessante und klar gegliederte "Liederkunde". Zunächst bietet sie einen chronologischen Überblick zur Entwicklung des Kirchenlieds von der Frühzeit des Christentums über das Mittelalter, die Reformationszeit, Barock, Pietismus, Aufklärung, das 19. Jahrhundert, den Kirchenkampf bis hin zur ökumenischen Bewegung und dem zeitgenössischen Liedgut. Es schließt sich ein alphabetisches Verzeichnis zu den einzelnen Dichtern und Komponisten der Texte und Melodien mit Aufführung aller ihrer Liednummern im Gesangbuch an. Neben dem historischen und dem biographischen Zugang bietet der Anhang noch eine Aufschlüsselung der Lieder unter zwei besonderen Aspekten: Es sind dies zum einen ökumenische Lieder, die sich zum Teil auch im "Gotteslob" unserer katholischen Schwestern und Brüder finden; dass diese Aufstellung ganze neun Seiten einnimmt, ist ein ermutigendes Zeichen des interkonfessionellen Zusammenwachsens! Zum anderen werden alle fremdsprachigen Lieder und die deutschsprachigen Lieder aufgeführt, die aus anderen Ländern stammen oder von dort inspiriert wurden.
Mein Blick ist auf einem solchen Lied hängen geblieben.
Lassen Sie uns näher darauf schauen: Wenn wir die Nr. 116 im Hauptteil aufschlagen, stoßen wir im Lauf des Kirchenjahres auf ein ganz besonderes Osterlied:
"Er ist erstanden, Halleluja"
Als Vorlage diente ein Oster-Ruf aus Tansania, so lesen wir im Nachspann:
Strophen:
Mfurahini, Haleluya,
Mkombozi amefufuka.
Amefufuka, Haleluya,
Von Msifuni sasa yu hai.
Refrain:
Tumwimbie sote kwa furaha.
Yesu ametoka kaburini.
Kashinda kifo, Haleluya,
Haleluya, Yesu yu hai.
Wir können den Text kaum aussprechen, wieviel weniger aber verstehen, denn er wurde in der Bantusprache Suaheli (Kisuaheli, Swahili) geschrieben, der im gesamten Osten Afrikas und damit auch in Tansania am stärksten verbreiteten Verkehrssprache.
Die Entstehung dieses Oster-Rufs führt uns in die jüngere (Kirchen-)Geschichte des Staates am Indischen Ozean. Nehmen wir uns die Zeit, darauf einzugehen: 1964, drei Jahre nach seiner Unabhängigkeit von der britischen Mandatsmacht, war die ehemalige Kolonie Tanganjika mit Sansibar zu "Tansania" fusioniert. Von den rund 56 Millionen Einwohnern Tansanias sind ca. 61,4 % Christen, die vor allem im Innenland leben, während die ca. 25,2 % Muslime den Norden und die Küstenbereiche bevölkern.
Das Erbe der Kolonialvergangenheit spiegelt sich in der Missionierung des Landes, in dem die Lutheraner als größte evangelische Glaubensgemeinschaft bis heute eine starke Position einnehmen. Von christlichen Familien und in christlichen Heimen erzogen wurde auch das Waisenkind Bernard Kyamanywa, der 1938 geborene Verfasser des tansanischen Osterrufs. Er durchlief nach einer musikalischen Grundausbildung und dem Lehramtsstudium von 1964–1968 die Ausbildung zum Pfarrer am Lutheran Theological College von Makumira im Norden des Landes. Kyamanywa, der sich durch hervorragende Hebräisch-Kenntnisse auszeichnete, war federführend bei der Übersetzung der Bibel in seine Bantu-Muttersprache und wurde auf Grund dieser Kompetenz zu einem Vertreter der "Evangelical Lutheran Church in Tanzania" ernannt.
Als der Leiter des College, Pastor Gerhard Jasper, nach der Unabhängigkeit des Landes eine Arbeitsgruppe aus Theologiestudenten ins Leben rief und die Teilnehmer ermunterte, neue christliche Lieder zu bekannten afrikanischen Melodien zu verfassen, entstand eine Sammlung von Texten und Melodien, die durch Jaspers Nachfolger, dem Missionar Howard S. Olson, 1968 veröffentlicht wurde. Auch Kyamanywa fühlte sich von dem Appell angesprochen und schrieb den Text für fünf Hymnen, von denen sein Osterlied das bekannteste wurde. Olson übersetzte es 1969 ins Englische, später schlossen sich schwedische und norwegische Übertragungen an.
Die deutschen und englischen Missionare am Viktoriasee hatten ihr eigenes Liedgut mitgebracht, das sich mit einheimischen Melodien so eng verband, dass die Wahrnehmung davon, worum es sich im Einzelnen handelte, oft verschwamm. So wird heute unterschiedlich beurteilt, ob der Melodie von Kyamanywas Osterhymnus ein Stammesgesang der Haya, seiner afrikanischen Ethnie im Norden Tansanias, zu Grunde liegt oder ob sie "aus dem Liedgut der Londoner Afrika-Inland-Mission herrührt" (Dieter Trautwein).
1969 wurde die Melodie einer deutschen Text-Version unterlegt, die auf der Grundlage von Kyamanywas Auferstehungslied entstand. Als Nummer 116 im Gesangbuch finden wir das von Ulrich Siegfried Leupold getextete Lied, das die Struktur des Originals übernimmt. Die fünf Strophen mit einer beschwingten Melodie im tänzerischen 6/4-Takt jubilieren hier die Osterbotschaft heraus, deutlich inspiriert von afrikanischer Lebensfreude. Die Anlage folgt dem Typ des biblischen Erzähllieds: In den Strophen 2–4 wird das von den Evangelisten Markus (16, 1–8) und Matthäus (28,1–10) überlieferte österliche Geschehen begeistert-bewegt wiedergegeben, worauf die Gemeinde im Refrain mit einem Lobpreis antwortet. Die erste und letzte Strophe verdeutlichen die erlösende Wirkung des Erzählten für uns Menschen.
Wer war der Kirchenlieddichter, der sich der deutschen Übertragung so gelungen annahm? Ulrich Siegfried Leupold (1909–1970), ein gebürtiger Berliner, war musikalisch stark vorgeprägt, denn sein Vater wirkte als Organist an der 1945 zerstörten St. Petrikirche in Berlin und seine Mutter war als Sängerin und Musiklehrerin tätig. Leupold studierte an der Humboldt-Universität Musikwissenschaft und Evangelische Theologie und wurde mit einer Arbeit über "Die liturgischen Gesänge der evangelischen Kirche im Zeitalter der Aufklärung und Romantik" promoviert. Da er dem nationalsozialistischen Regime schon früh kritisch-ablehnend gegenüberstand, brach Leupold Ende 1933 sein Studium an der Universität ab. Von den Nationalsozialisten auf Grund der jüdischen Vorfahren seiner Mutter als "Halbjude" eingestuft, wurde er 1935 aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen und erhielt Berufsverbot. Seine Kontakte zur Bekennenden Kirche ermöglichten ihm eine kirchenmusikalische Studienreise nach Schweden und veranlassten ihn, die fehlenden Semester an der oppositionellen Kirchlichen Hochschule der Bekennenden Kirche in Berlin fortzusetzen, wo er 1937 das erste Theologische Examen ablegte. Doch die politische Gesamtlage nötigte Leupold, das sich anschließende Vikariat abzubrechen und zu emigrieren. Nach kurzen Zwischenstationen in England und den USA ließ er sich in Kanada nieder, wurde 1939 ordiniert und arbeitete sechs Jahre in der Provinz Ontario als Pfarrer. Seit 1945 lehrte Leupold als Professor für Neues Testament und Kirchenmusik am Lutheran Theological Seminary in Waterloo, dessen Dekan und späterer Direktor er wurde.
Leupold machte sich einen Namen als Dichter von Kirchenliedern, wurde für seine hohe liturgische und hymnologische Kompetenz geschätzt und mit verantwortlichen Aufgaben an führenden Stellen betraut. So arbeitete er am Gesangbuch des Lutherischen Weltbundes "Laudamus" mit, und in diesem Zusammenhang bearbeitete er 1969 auch das Lied, dessen tansanische Vorlage darin ebenfalls Aufnahme gefunden hatte und dem unsere heutige Aufmerksamkeit gilt. Die deutsche Nachdichtung fand schnelle Verbreitung in ökumenischen Liedheften, etwa im Liederbuch "CANTATE" von 1974, wo es auf Kisuaheli, Englisch und Deutsch abgedruckt wurde. Im Eigenteil der Diözese Mainz für das "Gotteslob" findet sich der Hymnus unter der Nummer 820. Wir sollten ihn auch in unseren Gemeinden viel öfter singen, weil er uns die sonntägliche Mattheit und den ‚Kirchenschlaf‘ aus den Kleidern schüttelt und uns äußerlich und innerlich in Bewegung bringt:
Strophen
1. Er ist erstanden, Halleluja!
Freut euch und singet, Halleluja!
Denn unser Heiland hat triumphiert,
all seine Feind gefangen er führt.
2. Er war begraben drei Tage lang.
Ihm sei auf ewig Lob, Preis und Dank;
denn die Gewalt des Tods ist zerstört;
selig ist, wer zu Jesus gehört.
3. Der Engel sagte: "Fürchtet euch nicht"
Ihr suchet Jesus, hier ist er nicht.
Sehet, das Grab ist leer, wo er lag;
er ist erstanden, wie er gesagt."
4. "Geht und verkündigt, dass Jesus lebt,
darüber freu sich alles, was lebt.
Was Gott geboten, ist nun vollbracht,
Christ hat das Leben wiedergebracht.".
5. Er ist erstanden, hat uns befreit;
dafür sei Dank und Lob allezeit.
Uns kann nicht schaden Sünd oder Tod,
Christus versöhnt uns mit unserm Gott
Refrain
Lasst uns lobsingen von unserem Gott,
der uns erlöst hat vom ewigen Tod.
Sünd ist vergeben, Halleluja!
Jesus bringt Leben, Halleluja!
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Standfoto aus dem Film: Sing it loud-Luthers Erben in Tansania
www.jip-film.de /sing it loud
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So wünschen wir Ihnen allem eine gesegnete Passions- und Osterzeit, dass sie uns trotz allem mit der Hoffnung und Freude erfüllt, die die Frauen auf dem Bild ausstrahlen.
Ihre Karin Kiworr und Annelen Ottermann
BRIEF FEBRUAR 2022
Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes,
in diesen Monat Februar ist ja wieder Fastnacht, bevor mit dem Aschermittwoch am
2. März die Passionszeit beginnt. Schon seit vielen Wochen wird überlegt, was in diesem
Jahr an Fastnachtsaktivitäten möglich werden kann, nachdem Corona ja immer noch für
so viele Einschränkungen sorgt. Die Sehnsüchte der Aktiven und das gesellschaftlich
Verantwortbare sind kaum mehr zur Deckung zu bringen. Man hat geplant, improvisiert
und wieder verworfen. Der Handlungsspielraum wurde enger und enger, und inzwischen
ist es schon viel, was nicht stattfinden darf und auf das die Närrinnen und Narren
verzichten müssen.
Manches geht dennoch: So hat Mainz in diesem
Jahr einen kleinen ‚Geburtstag‘ gefeiert, der auch
mit der Mainzer Fastnacht zu tun hat: Der
Fastnachtsbrunnen auf dem Schillerplatz wurde am
14. Januar 55 Jahre alt!
Sie alle sind sicher unzählige Male an ihm vorüber
gegangen: beim Bummeln, auf dem Weg zu Bussen
und Straßenbahnen, unterwegs in die Stadt für
Besorgungen, zum Wochenmarkt und zu vielen
anderen Gelegenheiten, denn er liegt ganz zentral
und ist nicht zu übersehen.
Für mich selbst trifft das auf jeden Fall zu, und
jedes Mal freue ich mich über diesen Brunnen, vor
allem im Sommer, wenn die Tropfen, die der Wind
herüber weht, etwas Kühlung bringen. Und
manchmal, wenn etwas Zeit war, habe ich mir die
eine oder andere Figur etwas genauer angeschaut
oder – seltener – auch Gästen gezeigt.
Dieser Brunnen ist einmalig: fast 9 Meter hoch, mehr als 200 bronzene Figuren
schmücken ihn: Narr und Mönch, Pegasus und Vater Rhein, Till Eugenspiegel und Bajazz
und viele, viele andere bevölkern ihn. Allein die äußere Form ist etwas Besonderes: der
Münchener Bildhauer Blasius Spreng (1913–1987), dessen Entwurf aus 234 Vorschlägen
ausgewählt wurde, hat als Vorbild für seine Gestalt ganz bewusst den Domturm über
dem Westchor gewählt. Allerdings ist er gleichsam auf den Kopf gestellt, wie es ja dem
Wesen der Fastnacht entspricht.
Monsignore Klaus Mayer deutet das so: " es gibt eine Weisheit, die Torheit ist …, die
Torheit, dass ein Mensch sich so sehr an die Welt verliert, in diese Welt vernarrt, dass
er darüber Gott vergisst." (Mayer, S. 10) "Brunnen der Freude", so hat er ihn in seinen
gleichnamigen Meditationen genannt. Und noch mehr: "Brunnen der Freude inmitten
einer lebensfrohen Stadt: Das ist der Mainzer Fastnachtsbrunnen. Gewiss,
charakteristisches Symbol des närrischen Treibens in ihr! Aber nicht nur. In diesem
Brunnen hat sprudelnde Freude Gestalt angenommen, werden Tiefen der Freude
ausgelotet. In diesem Narrenturm, wie der Brunnen auch genannt wird, werden Wege
zur Freude aufgezeigt." (Mayer, S. 7)
Und so möchte ich Sie in diesem Brief einladen, diese Wege ein Stück weit mit mir zu
beschreiten:
Unterwegs begegnen wir einer ungeheuren Vielzahl und Mannigfaltigkeit der Figuren.
Figuren des alltäglichen Lebens, auch die zum Teil ‚auf den Kopf‘ gestellt sind wie der
Eselsreiter, der rückwärts auf dem Esel sitzt (evtl. auf eine ehemalige Strafe
hindeutend für einen Mann, der sich von seiner Frau schlagen lässt!). Sodann Figuren,
die mit der Mainzer Fastnacht verbunden sind (z.B. Gardeoffizier, Bajazz, Till, die
Tafel mit den ‚3 W‘ für ‚Weck ,Worscht und Woi‘, in der einen Hand eines Mönchs
gehalten, die andere trägt das Kreuz! ). Des Weiteren Figuren, die christlichen Glauben
symbolisieren (z.B. Mönch, St. Martin) und schließlich Fabelwesen (z.B. Pegasus, Vater
Rhein und seine Töchter) und vieles, das einfach Lebensfreude symbolisiert: Tanzende,
Spielende, Musizierende. Da ist die ganze Weite von Lebensfreude eingefangen.
Irdisches und Himmlisches begegnen sich. Phantasie, Märchenhaftes, Mögliches und
Unmögliches entfalten sich. Und all das meisterhaft gestaltet!
Zwei der Figuren möchte ich auf diesem Weg zur Freude noch etwas genauer schildern.
Die eine ist ‚Till‘, untrennbar mit der Mainzer Fastnacht verbunden. In jedem Jahr tritt
er auf, in der großen Fernsehsitzung "Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht". Mit
den Geschichten um Till Eulenspiegel sind wir vermutlich alle aufgewachsen, diesem
Schelm aus dem 14. Jahrhundert, der die Menschen buchstäblich ‚beim
Wort nahm‘, scheinbar einfältig, in Wirklichkeit aber
gerissen und klug, Er nahm Redewendungen
wörtlich, die Streiche, die sich daraus
entwickelten, zeigten Witz, manchmal
Bosheit, meist aber hintergründigen Humor.
Die mit ihm verbundenen Symbole
ergeben sich aus seinem Namen:
Es sind die Eule und der Spiegel. Beide sind auf dem Fastnachtsbrunnen in Bronze gegossen.
Die Eule, Sinnbild der Weisheit auf der einen Seite, auf der anderen aber auch Sinnbild der Finsternis –
sie ist ein Vogel der Nacht, der tiefgründigen Humor und entlarvenden Spott verkörpert.
Und der Spiegel: In ihn sollen wir selbst hineinschauen, uns selbst erkennen – aber hier eben nicht in tierischem Ernst,
sondern mit einem Lächeln, das uns die eigene Unvollkommenheiten entdecken hilft.
Tills Aufgabe in der Mainzer Fastnacht ist es, anderen den Spiegel vorzuhalten,
in seiner Narrenfreiheit gesellschaftliche, politische, gesellschaftliche und auch kirchliche Narrheiten so vorzutragen, dass sie Gelächter und Fröhlichkeit wecken. Er hält ihn auch uns vor.
Die zweite Figur ist die des Heiligen Martin. Wir alle kennen sie in Mainz, die
wunderschönen Martinsumzüge im November, mit den Laternen tragenden Kindern, den
Martinsliedern und vor allem natürlich mit dem hoch zu Ross thronenden Martin (in den
vergangenen Jahren allerdings häufig eine "Martina", weil Mädchen lieber reiten als
Jungen. Und nach dem Umzug dann bei loderndem Feuer die Martinsweck und
Glühwein für die Erwachsenen, Kinderpunsch für die Kinder.
Aber die Gestalt des Martin selbst: ist es nicht eine Narrheit, wenn ein Soldat zum
Mönch wird, ist es nicht eine Narrheit, wenn ein Mantel mit dem Schwert zerteilt wird?
Töricht, weil ja der halbe Mantel keinen mehr richtig wärmt, weil ja das Schwert
normalerweise nicht zum Mantelzerteilen da ist.
Aber in dieser Narrheit steckt doch nun gerade die Weisheit: Dieser Erweis der Liebe
im Sinne Christi – sie wärmt vielleicht nicht mehr so wie ein unzerteilter Mantel, aber
sie wärmt: innerlich und äußerlich. Und das Schwert - es muss seine Schärfe hier nicht
zum Töten und Verwunden nutzen, sondern es wird zum Helfen eingesetzt.
"Einen Weg zur Freude" möchte uns also dieser Brunnen aufzeigen. Vielleicht gehen
auch Sie in diesen Tagen ja wieder einmal an ihm vorbei und schauen ihn sich genauer
an, entdecken Eigenes.
Klaus Mayer hat in seinem Büchlein noch einen Fastnachtsspruch aufgenommen:
"Fassenacht ist Herzenssache". Und so ist sie für ihn "mehr als ‚bunte Mischung aus
heidnischem Frühlingsfest der Antike, germanischem Dämonenkult, kirchlicher
Fastenzeit und mittelalterlichem Mummenschanz‘, wie zu lesen war. Ihre Wurzeln
reichen tiefer, Fastnacht entspringt dem Herzen, seiner Sehnsucht nach Freude und
Glück." Damit weist sie über sich hinaus: "Vom Ursprung her ist Fastnacht transzendent,
nach oben hin offen wie der Fastnachtsbrunnen, auf Erfüllung hin, die allen geschenkt
wird, denen Gott ‚Herzenssache‘ ist." (Mayer, S. 42f.)
In diesem Sinne suchen Sie sich in diesen Tagen vielleicht Ihre eigenen Wege zur
Freude, gerade jetzt, wo wir uns ja immer noch nicht wieder sehen können.
Bleiben Sie frohgestimmt, gesund und behütet!
Es grüßen Sie herzlich
Ihre Karin Kiworr und Annelen Ottermann.
Literaturhinweis:
Klaus Mayer: Brunnen der Freude. Meditationen zum Mainzer Fastnachtsbrunnen. Würzburg: Echter, 1981.
BRIEF JANUAR 2022 - JAHRESLOSUNG
Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes!
Weihnachten liegt hinter uns und das Jahr 2022 hat begonnen. Und da wollen wir, Annelen Ottermann und ich, Ihnen zuallererst ein gutes, möglichst gesundes und gesegnetes Jahr wünschen!
Aber ich weiß nicht, wie es Ihnen damit geht – für mich ist diese Anfangszeit in einem neuen Jahr immer eine merkwürdige Zeit. Da ist diese Hoch-Zeit der Feste mit allen Vorbereitungen, mehr oder weniger harmonischen Familien- und Freundestreffen, mit manchmal intensiver Vertiefung in die Botschaft der Bibel. Und nach nur wenigen Tagen schließt sich der Jahreswechsel an, wieder ein Fest, das z.T. ausgelassen gefeiert wird. z. T. aber auch die Flüchtigkeit der Zeit vor Augen führt. Und dann sind die Feste vorbei, der Alltag hat begonnen. Für mich sind das Tage, die mich sehr nüchtern wieder auf den Boden des Alltäglichen holen, auch in das Dunkel und die Nässe eines Januar.
Aber wie in jedem Jahr möchte ich auch diesmal wieder die diesjährige Jahreslosung mit Ihnen bedenken. Sie steht im Johannesevangelium, im 6. Kapitel. Das Johannesevangelium ist ja das Evangelium, das am spätesten geschrieben wurde und sich von den anderen drei Evangelien wesentlich unterscheidet, sowohl sprachlich als auch in seiner Botschaft. Während in den westlichen Kirchen die drei so genannten "synoptischen Evangelien" – Matthäus, Markus und Lukas – eher von zentraler Bedeutung waren, hat in den Ostkirchen das Johannesevangelium diesen Stellenwert. Sein Verfasser betont die Göttlichkeit Jesu. Er entwickelt seine Gedanken nicht linear, in einer gewissen logischen Abfolge, sondern kreist um ein Thema; ein wörtlicher Sinn wird zu einem tieferen Sinn geführt, verschiedene Ebenen, Sichtbares und Unsichtbares, verschwimmen miteinander.
So verhält es sich auch in dem Zusammenhang, in dem sich die Jahreslosung findet. In diesem 6. Kapitel geht es um das Brot. Zunächst einmal im ganz alltäglichen Sinn: Menschen, die sich um Jesus scharen, um ihn zu hören, werden hungrig und werden auf wunderbare Weise gespeist. Alle werden satt. Aber das ist nicht einfach ein Wunder, sondern in der Sprache des Johannes ein Zeichen. Ein Zeichen will auf etwas deuten, bei Johannes will es auf Gott weisen. Nachdem alle satt sind, entzieht sich Jesus den Menschen, wieder auf geheimnisvolle Weise, erst ganz allein auf einen Berg und dann mit den Jüngern über das galiläische Meer an das andere See-Ufer. In der Schilderung des Evangeliums suchen die Menschen nun Jesus – und nach Umwegen finden sie ihn. Und er sagt zu ihnen: "Ihr sucht mich nicht, weil ihr ein Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von dem Brot gegessen habt und satt geworden seid. Müht euch nicht um Speise, die vergänglich ist, sondern um Speise, die da bleibt zum ewigen Leben." Geheimnisvolle Worte! Sie erinnern an das Wort, das im 5. Buch Mose steht: ... dass der Mensch nicht lebt vom Brot allein, sondern von allem, was aus dem Mund des Herrn geht." Ein Satz, der auch in der Versuchungserzählung bei Matthäus 4, 4 aufgenommen wird.
Im Folgenden präzisiert Jesus dieses Wort und deutet es auf sich selbst. Er sagt: "Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten." (Joh. 6, 35) Und weiter: "Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. [...] Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch – für das Leben der Welt." (Joh. 6, 51).
In diesen Zusammenhang eingebettet ist nun die diesjährige Jahreslosung: "Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen". Und es ist merkwürdig: In den Auslegungen zu diesem Wort wird immer die zweite Hälfte des Satzes betont: Dass niemand hinausgestoßen wird, dass alle willkommen sind. Aber im johanneischen Gedanken ist die erste Hälfte "wer zu mir kommt..." die Voraussetzung für das zweite.
Zu Jesus kommen, an ihn glauben als an das lebendige Brot, das von Gott kommt, ja, in dem Gott selbst zu finden ist, das ist das Entscheidende. Zu Jesus kommen: der direkte Weg wie ihn die Menschen in seinem Umfeld hatten, der existiert für uns nicht. Aber bereits als diese Erzählung im Johannesevangelium formuliert wurde, war das nicht anders. Deswegen ist das, was uns in der Bibel von Jesus Christus überliefert worden ist, von entscheidender Bedeutung: Darin lernen wir ihn kennen, durch den Blick von Menschen zwar, aber darin ist doch verborgen, wer Jesus Christus gewesen ist: in seiner Verkündigung, in dem, was für ihn Recht und Unrecht ist, in seinem heilenden Handeln. Und schließlich und vor allem darin, dass er sich für uns in den Tod begeben und ihn dadurch bezwungen hat. Und so bleibt er nicht eine Größe vergangener Zeiten, sondern er wird lebendig: dann, wenn wir die Beziehung zu ihm suchen. Das ist das, was den christlichen Glauben aller Zeiten ausgemacht hat und was unseren eigenen Glauben mit Leben erfüllt.
Wenn Jesus Christus die Mitte unseres Glaubens ist, dann wird es auch unmöglich, sich ein eigenes Gottesbild zurechtzuzimmern, denn Gott zeigt sich in ihm. Und da, wo wir ihn suchen, da wo wir zu ihm kommen, wie es in der Jahreslosung heißt, da wird er uns nicht hinausstoßen, sondern, so könnten wir fortfahren, wird uns das Glück und die Geborgenheit des Glaubens erfahren lassen. Wir müssen nicht vollkommene Menschen sein, wir müssen nicht alt oder jung, arm oder reich sein, um ihm zu begegnen, sondern allein erfüllt von der Sehnsucht nach ihm.
Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes,
nun hat auch in diesem Jahr die Adventszeit begonnen, diese Zeit der Erwartung und Hoffnung. Die Nachrichten, die uns täglich erreichen, scheinen wie eine Gegenbewegung zu sein: Der Blick in die Welt ist bedrückend, Flüchtlingselend, Bürgerkriege, Hunger, Unterdrückung.
Und hatten wir noch im Sommer gehofft, dass in diesem Winter dank der so unerwartet schnellen Entwicklung eines Impfstoffes Corona, wenn auch noch nicht besiegt, so doch wenigstens eingedämmt sein könnte, erleben wir wieder das Andere: Steigende Zahlen, auch der Todesfälle, volle Intensivstationen. Und wieder muss so vieles abgesagt oder eingeschränkt werden – wie eben auch die monatlichen Veranstaltungen unseres Frauenbundes. Nicht einmal ob und wie Weihnachten in den Kirchen gefeiert werden kann, ist sicher. Und die Menschen, ich denke, auch wir selbst, sind müde geworden. Schuldige werden gesucht, eine gereizte Stimmung macht sich breit.
Und trotzdem ist Advent! Und so möchte ich Sie diesmal einem Adventslied begegnen lassen, das Sie vermutlich alle kennen. Es ist das Lied: "Macht hoch die Tür". Das Bild von der Tür, die geöffnet werden soll, entnimmt der Liederdichter Georg Weissel dem 24. Psalm, der auch in Teilen der Wochenpsalm zum 1. Advent ist.Georg Weissel war damals als Pfarrer an die Altroßgärter–Kirche in Königsberg berufen worden. Es war seine 1. Pfarrstelle. Die Heimat des jungen Pfarrers war die südlich von Königsberg gelegene Ortschaft Domnau. Seine Eltern, Dorothea Sahm und der Richter und spätere Bürgermeister Johann Weissel, legten offenbar Wert auf eine gute Ausbildung: Im Alter von 11 Jahren kommt Georg nach Königsberg und besucht dort die Kneiphöfische Schule. Doch immer wieder bedroht die Pest die Stadt, allein im Jahr 1620 sollen bis zu 15.000 der Seuche zum Opfergefallen sein! Vom Dreißigjährigen Krieg bleibt Preußen dank geschickter Vertragspolitik weitgehend Krieg verschont.
In seiner Schule wird Weissel Chorsänger unter dem Hofkapellmeister Johannes Eccard, einem Schüler von Orlando di Lasso. Von 1608-1611 studiert er Theologie und vermutlich Musik an der Albertina, der neu gegründeten evangelischen Universität. Es folgen 3 Jahre weiteren Studiums und Reisen nach Wittenberg, Leipzig, Jena, Straßburg, Basel und Marburg – und dort erlebte er natürlich auch die Schrecken des Dreißigjährigen Kriegs. Von 1614-17 wird er Lehrer und später Rektor in Friedland (russ. Pravdinsk), bevor er nach Königsberg zurückkehrt und die Pfarrstelle an der neu erbauten Altroßgärter–Kirche übernimmt.Und nun erzählt der Dichter selbst: "Neulich, als der starke Nordoststurm von der nahen Samlandküste herüberwehte und viel Schnee mit sich brachte, hatte ich es in der Nähe des Doms zu tun. Die Schneeflocken klatschten den Menschen gegen das ganze Gesicht, als wollten sie ihnen die Augen zukleben. Mit mir strebten deswegen noch mehr Menschen dem Dom zu, um Schutz zu suchen. Der freundliche und humorvolle Küster öffnete die Tür mit einer tiefen Verbeugung und sagte: Willkommen im Hause des Herrn. Hier ist jeder in gleicher Weise willkommen, ob Patrizier oder Tagelöhner. … Das Tor des Königs steht jedem offen‘ Nachdem ich den Schnee von meinem Gewand abgeschüttelt hatte, blickte ich immer wieder zu dem hohen Portal und da kamen mir die ersten Verse in den Sinn."Dieses Bild eines Tores hat Weissel in sein Lied aufgenommen. Weit öffnen sollen Menschen, sollen wir die Tore, denn Gott selbst ist es, der kommen will. Kein Eindringling, vor dem wir uns schützen müssten, sondern der, der Leben und Freude bringen will.
Geradezu jubelnde Töne stimmt der Liederdichter an, wenn er den beschreibt, der da vor dem Tor steht: der Herr der Herrlichkeit, der Heiland, der Erlöser, der, der Heil und Leben mit sich bringt. Die Insignien eines Königs: Krone und Zepter werden zu Zeichen für Gottes Heiligkeit und Barmherzigkeit. Einstimmen sollen wir in diesen Jubel, diese Freude soll unsere Herzen erfüllen. Denn ebenso wie Traurigkeit und Weltüberdruss ansteckend sind, kann auch Freude ansteckend sein. Weissel will uns mit seinem Glück des Glaubens und der Hoffnung anstecken, weil er sich selbst von dem, der zur Freudensonne werden will, erfüllt weiß.
Spricht Weissel in seinen ersten Strophen noch von dem Land, der Stadt, die die Tore öffnen sollen, damit Gott Wohnung findet, so sind es in den Strophen 4 und 5 die Tore in unserem Inneren, in unseren Herzen, die, wenn sie verschlossen sind, Freude und Glauben ausschließen. Gerade sie sollen wir öffnen, damit wir selbst zum Tempel, zum Gotteshaus, werden können, damit Gott in uns einziehen kann.Die Geschichte des Liedes hat noch eine Fortsetzung: Es ist der Advent im Jahr 1624. Doch da wurde, so wird erzählt, das Lied vor dem Gartentor eines Geschäftsmannes namens Sturgis gesungen. Das geschah deshalb, weil dieser ein an sein neu erbautes "Schlösschen" angrenzendes Wiesengrundstück erworben, mit einem Zaun versehen und die Tore fest verschlossen hatte. Damit war den Leuten aus dem benachbarten Armen- und Siechenhaus nicht nur der nahe Weg in die Stadt versperrt, sondern auch der Zugang zur Kirche. Sie waren, soweit sie konnten, sonntags immer auf einem Weg über diese Wiese zum Dom in den Gottesdienst gegangen und nun war der Weg versperrt, das Tor zu. Sie mussten jetzt eine weite, mühevolle Strecke zurücklegen, und das haben viele überhaupt nicht mehr geschafft.
Der Bürgermeister und andere aus der Stadt wollten, dass der Weg wieder frei wurde, das Tor geöffnet. Aber der reiche Mann hörte nicht darauf. Und an diesem Adventssonntag ging nicht nur der Chor, der das Lied anstimmen sollte, zu Sturgis' Haus, sondern es schlossen sich auf Vorschlag von Pfarrer Weissel zahlreiche arme und gebrechliche Leute aus dem Heim den Sängern an.
Nachdem sich der Chor vor dem Gartentor des Geschäftsmannes aufgestellt hatte, hielt Weissel eine kurze Predigt. Er sprach von dem Hochmut, in dem viele Menschen dem König aller Könige, der ja auch das Kind in der Krippe sei, die Tore ihres Herzens versperrten, so dass er bei ihnen nicht einziehen könne. Mit erhobener Stimme fuhr er fort: "Und heute, lieber Herr Sturgis, steht er vor eurem verriegelten Tor. Ich rate euch, ich flehe euch an bei eurer Seele Seligkeit, öffnet ihm nicht nur dieses sichtbare Tor, sondern auch das Tor eures Herzens und lasst ihn demütig mit Freuden ein, ehe es zu spät ist." Er hatte das letzte Wort noch nicht ausgesprochen, als der Chor zu singen begann: "Macht hoch die Tür, die Tor macht weit! Es kommt der Herr der Herrlichkeit, ein König aller Königreich, ein Heiland aller Welt zugleich, der Heil und Leben mit sich bringt ...". Sturgis soll wie angewurzelt da gestanden haben. Kurz vor Beendigung des Liedes aber - die Sänger sahen es mit Erstaunen - griff er in seine Tasche und brachte einen Schlüssel zum Vorschein, mit dem er die schweren Gartentore aufsperrte. Und von diesem Zeitpunkt an wurden sie nie mehr verschlossen. Als das Lied zu Ende war, soll Sturgis sogar alle in sein Haus gebeten und sie bewirtet haben. Die Heimbewohner hatten ihren kurzen Weg zur Kirche wieder, der noch lange Zeit "Adventsweg" genannt wurde.Soweit die Geschichte, die mit diesem Lied verbunden ist – die natürlich auch ganz anders hätte ausgehen können!
Den Liedtext zum Nachlesen finden Sie nachfolgend.
Wollen wir uns nun von dem Dichter einladen lassen, unsere Herzen der adventlichen Freude zu öffnen, denn es ist Jesus Christus, dessen Ankunft wir auch in diesem Jahr feiern – aller Mutlosigkeit zum Trotz!
So grüßen wir Sie alle ganz herzlich
und wünschen eine gesegnete weitere Adventszeit und frohe Weihnachten!
Ihre Karin Kiworr und Annelen Ottermann
Macht hoch die Tür, die Tor macht weit
Macht hoch die Tür, die Tor macht weit,
Es kommt der Herr der Herrlichkeit,
Ein König aller Königreich,
Ein Heiland aller Welt zugleich,
Der Heil und Leben mit sich bringt;
Derhalben jauchzt, mit Freuden singt:
Gelobet sei mein Gott,
Mein Schöpfer reich von Rat.
Er ist gerecht, ein Helfer wert;
Sanftmütigkeit ist sein Gefährt,
Sein Königskron ist Heiligkeit,
Sein Zepter ist Barmherzigkeit;
All unsre Not zum End er bringt,
Derhalben jauchzt, mit Freuden singt:
Gelobet sei mein Gott,
Mein Heiland groß von Tat.
O wohl dem Land, o wohl der Stadt,
So diesen König bei sich hat.
Wohl allen Herzen insgemein,
Da dieser König ziehet ein.
Er ist die rechte Freudensonn,
Bringt mit sich lauter Freud und Wann.
Gelobet sei mein Gott,
Mein Tröster früh und spat.
Macht hoch die Tür, die Tor macht weit,
Eu'r Herz zum Tempel zubereit'.
Die Zweiglein der Gottseligkeit
Steckt auf mit Andacht, Lust und Freud;
So kommt der König auch zu euch,
Ja, Heil und Leben mit zugleich.
Gelobet sei mein Gott,
Voll Rat, voll Tat, voll Gnad.
Komm, o mein Heiland Jesu Christ,
Meins Herzens Tür dir offen ist.
Ach zieh mit deiner Gnade ein;
Dein Freundlichkeit auch uns erschein.
Dein Heilger Geist uns führ und leit
Den Weg zur ewgen Seligkeit.
Dem Namen dein, o Herr,
Sei ewig Preis und Ehr
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BRIEF NOVEMBER 2021
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Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes!
Eigentlich sollte der Novemberbrief nur eine Einladung zu einem gemeinsamen Nachmittag sein. Ich hatte uns auch schon im Gemeindezentrum der Maria-Magdalena Gemeinde angemeldet. Aber bei dem rasanten Anstieg der Coronazahlen und bei den immer häufiger auftretenden "Impfdurchbrüchen" scheint es uns doch zu riskant zu sein, zumal wir ja fast alle zu der besonders gefährdeten Gruppe gehören. Aber sobald sich eine Entspannung abzeichnet, freuen wir uns auf ein Wiedersehen und werden Sie rechtzeitig einladen.
Und eine Entschädigung für das nicht stattfindende Treffen soll nun die Einladung von Annelen Ottermann zu einem neuen "Gang durch das Gesangbuch" sein.
Matthias Claudius – der Mensch und seine zwei Choräle
Es ist nicht immer die Menge der von einem Dichter überlieferten Kirchenlieder – mitunter genügen eins, zwei Liednummern, die so starke Wirkung entfalten, dass sie sich ‚unsterblich‘ in das Gedächtnis der Menschen eingegraben haben. Texte, die Menschen über alle Altersgrenzen hinweg so zu Herzen gehen, dass sie sie "par coeur" - auswendig – rezitieren können.
Dies ist der Fall bei Matthias Claudius, dem diese Gesangbuchreise gilt: Im Register finden wir nur zwei Treffer unter seinem Namen, die aber so bekannt und beliebt sind wie nur wenige Lieder: Die Nummer 508 "Wir pflügen und wir streuen" – der Klassiker, der an keinem Erntedankfest fehlen darf – und vor allem die Nummer 482 "Der Mond ist aufgegangen", das zum unvergänglichen Vorrat an deutscher Poesie gehört.
Doch schauen wir zunächst auf den Dichter dieser zwei Texte, auf den Menschen und auf die Zeit, in der er lebte: Der 1749 im holsteinischen Reinfeld zwischen Lübeck und Bad Oldesloe geborene Pastorensohn bezog die Universität Jena, wo er nach einem abgebrochenen Theologiestudium zu den Rechts- und Staatswissenschaften wechselte, ohne darin wirkliche Erfüllung zu finden. Nach Stationen als Sekretär des Grafen von Holstein in Kopenhagen und redaktioneller Tätigkeit in Hamburg, wo es zur prägenden Begegnung mit Herder und Lessing kam, gab er seit 1771 als einziger Redakteur die 4 Seiten umfassende Wochenzeitung "Der Wandsbecker Bothe" heraus, die bis heute eng mit seinem Namen verknüpft ist. Hier gestaltete er die zeittypische Seite "Gelehrte Sachen" mit Rezensionen, Briefen, Gedichten, Prosastücken und wissenschaftlichen Abhandlungen, für die er namhafte Gelehrte gewann und selbst als Autor tätig war. Seine eigenen Artikel zeichnete er als der "Bothe" – einer fiktionalen Erzählerfigur mit autobiographischen Zügen, die auf den Berufsstand des antiken Götterboten und des frühneuzeitlichen Postreiters Bezug nahm, hier aber als laufender Postüberbringer mit den Insignien Wanderstab, Tasche und Hut unterwegs war und sich als Angehöriger des niederen Standes in betonter Bescheidenheit als Überbringer von Nachrichten verstand. Ab 1774 unterschrieb Claudius seine Beiträge mit dem seitdem verwendeten Pseudonym "ASMUS" (Esel). Mit dem "Wandsbecker Boten", der wegen zu niedriger Auflagen 1775 sein Erscheinen einstellen musste, erwarb sich Claudius einen Namen als Herausgeber. Seine hier erschienenen Texte veröffentlichte er pseudonym als "ASMUS omnia sua SECUM portans (Asmus, der Esel, der all‘ das seine mit sich führt). Die über einen Zeitraum von 38 Jahren erschienenen acht Bände griffen den Namen der Wandsbecker Wochenzeitung auf und trugen auch noch lange nach deren Einstellen den Untertitel "Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen". Das bis 1867 zum dänischen Königsreich gehörende Wandsbeck (dem heutigen Stadtteil Hamburg-Wandsbek) wurde sein Lebensmittelpunkt und Rückzugsort Hier heiratete er Rebekka, ein noch sehr junges Mädchen aus einer Handwerkerfamilie. Die mit ihr gegründete große Familie zu ernähren, wurde zur lebenslangen Herausforderung. Dies zwang den heimat- und naturverbundenen Claudius immer wieder, zur Sicherung des nötigsten Lebensunterhalts Anstellungen außerhalb seines geliebten Wandsbeck und fern seiner elf Kinder anzunehmen, so auf Vermittlung von Herder in Darmstadt beim Sekretär des Landgrafen Hessen-Darmstadt und als Redakteur der dortigen "privilegierten Land-Zeitung".
Die nur lustlos-halbherzig ausgeübte Bürotätigkeit in ungewohnten Abhängigkeitsverhältnissen befriedigte Claudius nicht, und als er nach schwerer Erkrankung wieder nach Wandsbeck zurückkehrte, wurden ihm schlechte Arbeitszeugnisse ausgestellt. Erst durch einen Ehrensold des dänischen Kronprinzen entspannte sich seit 1785 die prekäre finanzielle Lage für die Familie leicht. Im Alter besserte der polyglotte Claudius sein Einkommen mit Übersetzungen auf. Wandsbeck verließ er fluchtartig vor den Franzosen und wenig später vor den Schweden, verbrachte die letzten zwei Lebensjahre in Kiel und Lübeck, bevor er schließlich 1815 in Hamburg starb.
Durch das Sterben dreier seiner Geschwister im Kindesalter gelangte Claudius früh in Berührung mit dem Tod, der für ihn eine ambivalente Bedeutung hatte – bedrohlich und zugleich tröstend. Als "Freund Hain" gehörte er fortan zu seinem Leben, in dem er auch später noch an vielen Särgen stehen musste. Der Tod war präsent, wurde sein Partner, den er anreden konnte, den er in christlichem Gottvertrauen annahm und ihm sogar seine Schriften widmete.
Wie sein Zeitgenosse Johann Peter Hebel war Matthias Claudius ein volkstümlicher Dichter im besten Wortsinn, der es verstand, eine dem Volk verständliche Sprache zu pflegen. Sie war klar, schlicht und einfach, ohne sich anzubiedern. Trotz ihrer Einfachheit zeugten Form und Inhalt von einem geschulten Schriftsteller, der seine Worte mit Bedacht wählte, kunstvoll, ohne abgehoben und gestelzt zu sein – "Gebrauchs- und Lebensbegleittexte", wie ein Rezensent es formulierte.
Einfach, bescheiden-demütig und unaufdringlich wie die Sprache seiner Gedichte, Sentenzen und Lieder war das gesamte Wesen des Dichters und Menschen Matthias Claudius: Er selbst wollte ‚einfältig‘ in des Wortes ursprünglicher, positiver Bedeutung sein: aufrichtig, redlich, ehrlich. Jemand, dessen Reden, Schreiben und Handeln, Denken und Glauben in Einklang standen, ohne Falsch und Arg, der etwas bewirken wollte, ohne zu ‚wirken‘ und sich aufzuspielen, gebildet, aber nicht eingebildet. Claudius erreichte damit Herz und Verstand des Bürgertums als seiner Zielgruppe. Das Volk war für ihn keine abstrakte Größe wie bei manch einem der ganz Großen aus dem Dichterolymp seiner Zeit. Er sah in jedem Menschen den Bruder, er nahm sich der sozialen Frage mit Leidenschaft und Engagement an, wenngleich er das überkommene Sozialgefüge nicht in Frage stellte und dem traditionellen Obrigkeitsverständnis als einer von Gott gegebenen Ordnung anhing. Sein Menschenbild speiste sich aus christlichen Wurzeln, die Bibel bildete für den weltoffenen Christen Grundlage und Anleitung zum Leben als Vater und Ehemann, prägte aber gleichermaßen seine gesellschaftliche Verantwortung als Schriftsteller.
Matthias Claudius verkörperte mit Leben und Werk die widersprüchlichen Strömungen zwischen Aufklärung und Romantik. In ihm verquickten sich ganz widerstreitende Züge, und nicht alle seiner Zeitgenossen konnten mit seiner Lebensführung und Weltsicht etwas anfangen. Wandsbeck wurde zum Treffpunkt der großen spätaufgeklärten Gelehrtenelite, die Claudius aufsuchte und mit ihm im geistigen Austausch stand. Zu seinem Beziehungsgeflecht gehörten so große Namen wie Klopstock, Herder, Lessing, Hamann, Goethe, Voß, Schlegel, C. Ph. E. Bach, W. v. Humboldt, Lavater, Runge u. a. m. Manch ein Intellektueller fand jedoch keinen Zugang zu ihm, übte Kritik und Spott, hielt ihn für naiv, zu erbaulich, in seiner Frömmigkeit für unzeitgemäß und mit seiner Aufklärungsskepsis für einen im Alten Verhafteten. Goethe, den er bei einem Besuch in Weimar kennengelernt hatte, nannte ihn einen Narren und Wilhelm von Humboldt gar eine "völlige Null".
Bis heute gilt, was schon seine Zeitgenossen so empfanden: Matthias Claudius hatte viele Seiten – er ist nicht mit einer einfachen Formel zu erfassen, entzieht sich jeder billigen Kategorisierung! Eines aber können wir aber festhalten: Die Themen seines literarischen Schaffens waren Spiegel seines Lebens und von diesem nicht zu trennen – authentische "Gesprächswort[e] aus seinem Leben", wie ein Biograph einmal so treffend formuliert hat.
Kehren wir nun zurück zu den beiden Liedern im Gesangbuch:
"Wir pflügen und wir streuen" (EG 508) dichtete Claudius ursprünglich als bäuerliches Lied für ein Erntedankfest mit einem 16-strophigen Wechselgesang zwischen Vorsänger und Bauernchor. Eingang in evangelische Gesangbücher fand es Ende des 18. Jahrhunderts, wobei es bis in die 1950er-Jahre nur in einigen regionalen Anhängen und hier meist als Kinderlied erschien. Seit 1995 finden wir es nun auch im Stammteil des Evangelischen Gesangbuches.
"Der Mond ist aufgegangen" (EG 482), eines der berühmtesten und schönsten deutschen Volkslieder überhaupt, verdient einen intensiveren Blick. Denn in keinem anderen Text der deutschen Literatur ist, wie es in einer Einführung zu Claudius' Dichtungen heißt, "all das, was wir denken und fühlen, wenn wir Abend sagen, so unvergleichlich Wort geworden." Es wird von Menschen für das Kind in der Wiege ebenso wie für die Alten, Kranken und Sterbenden auf ihrem Lager gesungen und gebetet, ist aber auch Begleiter für Menschen mitten im eigenen Leben. Die sieben Strophen des Liedes sind nicht alle gleichermaßen geläufig, zeugen aber doch alle von tiefer Frömmigkeit und Lebensweisheit des Dichters.
Das Staunen über die Natur mit ihren Reichtümern und Wundern zeichnete Claudius von jeher aus und waren auch Auslöser für den Mondchoral mit dem literarischen Gattungsbegriff "Abendlied". Die hier von ihm aufgeworfenen Fragen und Zweifel im Zusammenspiel mit seinen Tastversuchen der eigenen Standortbestimmung entfalteten für Claudius eine befreiende Wirkung, der auch wir uns bis heute nicht entziehen können.
Auch wenn längst nicht auf alle diese Hinterfragungen und Bedenken eine Antwort greifbar war und ist, so weiten sie doch den Horizont, machen uns sensibel, lenken unseren Blick auch auf das, was wir als Menschen nicht erkennen und erklären können. Diesen "Überhang der Fragen, die keine Form von Wissenschaft bewältigen kann" (Hans-Georg Gadamer) auszuhalten, ist Ausdruck von Demut und spiritueller Gelassenheit. Und mit dieser Weltsicht, in der Stolz, Hochmut und Eitelkeit kein Raum gegeben wird, macht Claudius auch uns Mut, uns dem Fluss des Lebens und Gottes Geleit in den Fragen nach Herkunft und Ziel unseres Lebens anzuvertrauen.
Paul Gerhardt, dessen Spuren wir einer früheren. Gesangbuchreise gefolgt waren, spielte für Matthias Claudius eine wichtige Rolle. Von dessen "Nun ruhen alle Wälder" ließ er sich unmittelbar inspirieren und nutzte sie als Folie für sein "Der Mond ist aufgegangen". Ein Vergleich beider "Abendlieder" offenbart unübersehbare Parallelen in Text, Metrum und Reimschema der sechszeiligen Strophen. Er zeigt aber zugleich, wo Claudius bewusst neue Akzente setzen und einen anderen Gesamtduktus schaffen wollte. Schließlich liegen zwischen beiden Dichtern mehr als 130 Jahre. Nacht, Schlaf und Tod gehörten zu Claudius' Motivvorrat, den er dichterisch immer wieder bemühte und hier sein schriftstellerisches Können unter Beweis stellte. Die belebte und unbelebte Natur lieferte ihm dichterischen Stoff in Fülle und eröffnete ihm ein Ventil für seine lebenslange Beschäftigung mit den großen religiösen Fragen. Anders aber als Paul Gerhardt benutzte Claudius die so mannigfaltigen Erscheinungsformen der realen Natur, die für ihn nicht mehr den bedrohlichen Charakter wie noch im Barock hatten, nicht in erster Linie als religiöse Metapher. Er betrachtete sie vielmehr diesseits aller metaphorischen Deutungen auch als naturwissenschaftliche Phänomene, denen sein erkenntnistheoretisches Interesse galt. Unter Literaturwissenschaftlern wird der Choral als das "erfolgreichste Beispiel für […die ]aufgeklärt-pädagogische Kirchenliedpoetik des späten 18. Jahrhunderts" (Leif Ludwig Albertsen) eingestuft.
Die heute gebräuchlichen Melodien beider hier vorgestellten Choräle stammen von Johann Abraham Peter Schulz (1747 – 1800), der auch "Ihr Kinderlein kommet" komponierte. Das abendliche Mondlied, das noch im 20. Jahrhundert auf die Melodie von "Nun ruhen alle Wälder" gesungen wurde, gehört mit dem um 1905 komponierten vierstimmigen Satz von Max Reger zu den mehrstimmigen Chorstücken im Evangelischen Gesangbuch und im Gotteslob unserer katholischen Schwestern und Brüder (Nr. 93).
Der Mond ist aufgegangen
Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar;
der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar.
Wie ist die Welt so stille
und in der Dämmrung Hülle
so traulich und so hold
als eine stille Kammer,
wo ihr des Tages Jammer
verschlafen und vergessen sollt.
Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost belachen,
weil unsre Augen sie nicht sehn.
Wir stolze Menschenkinder
sind eitel arme Sünder
und wissen gar nicht viel;
wir spinnen Luftgespinste
und suchen viele Künste
und kommen weiter von dem Ziel.
Gott, lass dein Heil uns schauen,
auf nichts Vergänglichs bauen,
nicht Eitelkeit uns freun;
lass uns einfältig werden
und vor dir hier auf Erden
wie Kinder fromm und fröhlich sein.
Wollst endlich sonder Grämen
aus dieser Welt uns nehmen
durch einen sanften Tod;
und wenn du uns genommen,
laß uns in Himmel kommen,
du unser Herr und unser Gott.
So legt euch denn, ihr Brüder,
in Gottes Namen nieder;
kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.
Zum Weiterlesen:
Martin Geck:
Matthias Claudius. Biographie eines Unzeitgemäßen. München: Siedler, 2014. (24,99 €; lfb.)
Annelen Kranefuss:
Matthias Claudius. Eine Biographie. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2011. (antiquarisch lfb.)
Wie schön ist es, dass solche Dichter und Lieder existieren, die so unmittelbar zu berühren vermögen! Und ein solcher "Gang durchs Gesangbuch" kann doch einen nebligen Novembertag erhellen"
In diesem Sinn grüßen wir Sie ganz herzlich! Bleiben Sie gesund und von Gott behütet!
Ihre Karin Kiworr und Annelen Ottermann
BRIEF OKTOBER 2021
Liebe Freundinnen und Freunde des Frauenbundes!
In der ersten Oktoberwoche habe ich Wittenberg besucht. Es gibt zwar in diesem Jahr kein großes Reformationsjubiläum, aber die ganze Stadt Wittenberg steht trotzdem unter dem Zeichen der Reformation. Und das Jahr 1521 war ja das Jahr, in dem Martin Luther unter Zusicherung freien Geleits vor den Reichstag in Worms geladen wurde, wo er den Widerruf verweigerte. Kaiser Karl V. verhängte dann, wie bekannt, über Luther die Reichsacht und ließ 1521 seine Lehre verbieten. Der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise versteckte Luther auf der Wartburg, wo dieser mit der Bibelübersetzung begann.
In Wittenberg hat sich in den letzten 30 Jahren ungeheuer viel verändert. Vor allem das "Lutherhaus", das ehemalige Augustinerkloster oder "Schwarze Kloster" (so genannt nach der schwarzen Kuttenfarbe der Mönche) ist grundlegend renoviert worden und beherbergt heute das größte reformationsgeschichtliche Museum der Welt. Eine Dauerausstellung erzählt vom Leben und Wirken Martin Luthers sowie von den Veränderungen zur Zeit der Reformation. Zu den Exponaten gehören Luthers Mönchskutte, die 10-Gebote-Tafel von Lucas Cranach, Luthers Bibel sowie Handschriften und Medaillen. Die original erhaltene Lutherstube erinnert an die einstigen Tischgespräche des Reformators.
In diesem Hause lebte Luther, zuerst seit 1508 als Augustinermönch und dann, nach der Auflösung des Klosters, mit seiner Frau Katharina von Bora. Auch damals musste das Haus umgebaut werden.
Eine riesige Tischrunde kam dann täglich zusammen: zwischen 35 und 50 Personen wohnten im Haus: Luthers eigene Familie mit 5 Kindern, dazu 6 verwaiste Neffen und Nichten, Studenten und Angestellte. Zum Mittagsmahl (am späten Vormittag) und zur Abendmahlzeit kamen meist noch Freunde dazu.
Zu den später veröffentlichen "Tischreden" (nach Mitschriften von Beteiligten angefertigt) trifft sich allerdings nur ein kleinerer Freundeskreis in der schon genannten Lutherstube. Katharina ist als einzige Frau zugelassen! Und sie sieht die Veröffentlichung nicht nur positiv!
Wie ja bekannt ist, war Katharina von Bora die, die dieses riesige Hauswesen am Laufen hielt. Bierbrauen (man trank meist sogenanntes Dünnbier, weil Wasser nicht zum Trinken geeignet war), Tierversorgung, Feld- und Gartenwirtschaft, Wäsche, Kochen – das alles hatte sie zu organisieren und war selbst in diesen Bereichen tätig.
Und das Geld war immer knapp, trotz der umfangreichen Ländereien, über die Luther später verfügte, denn er gab allen, die bittend zu ihm kamen. Das muss ein häufiger Streitpunkt in der Ehe gewesen sein. Denn Katharina trug die eigentliche Verantwortung und die Rechnungsführung lag in ihren Händen.
Für einen Bereich entwickelte aber auch Luther selbst eine Leidenschaft: nämlich für den Garten. Er schreibt dazu an seinen Freund Spalatin: "Ich hab einen Garten gepflanzt und einen Brunnen gebaut. Komm, und du wirst mit Rosen und Lilien bekränzt." Und einen anderen Freund bittet er, aus Nürnberg Sämereien mitzubringen. Er schreibt: "Schicke nur, so viel du kannst... . Denn mag der Satan wüten, ich will ihn inzwischen verlachen und die Gärten, d. h. des Schöpfers Segnungen betrachten und sie zu seinem Lob genießen.... . Wenn ich am Leben bleibe, will ich Gärtner werden." Das ist er zwar nicht geworden, aber der Garten war sicher für ihn bei all der Gefahr, der er ausgesetzt war, ein heilsamer Ort.
Mit diesen Bildern wollte ich Ihnen einen kleinen Einblick in das alltägliche Leben des Hauses Luther vermitteln. Und es ist gut zu wissen, dass in all der täglichen Bedrohung auch noch so etwas möglich war.
Aber kein Bereich seines Lebens war für Luther ebenso wie für Katharina losgelöst von ihrem tiefen Glauben. Der Glaube war das Fundament, auf dem sich alles entwickelte, der Kräfte weckte, mit Mut und Tapferkeit erfüllte und auch immer wieder Freude schenkte. Er bewahrte nicht vor existentiellen Sorgen, aber er half hindurch.
Besonders beeindruckend war für mich in diesem Haus noch etwas Anderes: Nach den erbitterten Kämpfen des 16. Jahrhunderts, in denen Luther in der katholischen Kirche zur Spottfigur wurde und der Papst für ihn zum Antichristen (beides, vor allem Ersteres ist in dem Museum ausführlich dargestellt), ist heute auch hier die Suche nach dem entscheidend, was uns alle – katholisch oder evangelisch – in unserem christlichen Glauben verbindet. In einer Zeit, in der beiden Kirchen so viel Gegnerschaft entgegengebracht wird, ist es ermutigend, dass dieses Mühen um das Gemein-same erkennbar ist – etwas, was ja auch unseren Frauenbund kennzeichnet.
Zum Schluss nun noch eine Vor-Einladung: Wir planen, uns im November endlich wieder einmal zu treffen. Der geplante Termin ist der 22.11.2021. Es soll kein großes Programm im Mittelpunkt stehen, sondern vor allem die Begegnung. Im Vorfeld werde ich abklären, was wir beachten müssen. Wir freuen uns auf ein Wiedersehen!
Bis dahin grüßen wir Sie alle herzlich!
Ihre Karin Kiworr und Annelen Ottermann
BRIEF SEPTEMBER 2021
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Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes!
Nun liegen die Sommermonate schon fast hinter uns und der Herbst lässt sich bereits erahnen. Noch sind die Wiesen und Bäume grün, aber eine herbstliche Stimmung ist schon spürbar. Und anderthalb Jahre Corona mit all den Veränderungen und tiefgreifenden Spaltungen in der Gesellschaft sind sicher nicht spurlos an uns vorübergegangen.
Aber wenden wir uns einmal diesem Monat September zu: er ist der Monat der Tag- und Nachtgleiche, also bei uns des Herbstanfangs. Er ist in diesem Jahr in Deutschland Monat der Bundestagswahl. Und er ist ein Monat, in dem ein kirchliches Fest begangen wird, das in den evangelischen Kirchen aber vielfach in Vergessenheit geraten ist: "Das Fest des Erzengels Michael und aller Engel", wie es in unserem Gesangbuch zu lesen ist. Gefeiert wird dieser Tag am 29. September.
Nun haben ja Engel zur Zeit auch in Deutschland Hochkonjunktur und das merkwürdigerweise nicht in erster Linie in christlichen Kreisen, zumindest nicht in evangelischen, sondern durchaus in säkularen oder vor allem esoterischen Bereichen. Sowohl im Judentum wie auch im Islam werden Engel genannt. In der katholischen und orthodoxen Kirche werden sie ganz selbstverständlich verehrt. Was also sind Engel, wer ist dieser Engel Michael und warum sind sie im offiziellen evangelischen Festkalender so in Vergessenheit geraten?
Über das Letztere kann ich nur Vermutungen äußern: Irgendwie scheint es vielen etwas suspekt zu sein, dass es Kräfte geben könnte, die als Boten Gottes in die Welt hinein wirken. Dass Menschen einander zu Engeln werden können – schön und gut. Dass Engel in der Weihnachtsgeschichte von darstellenden Kindern heißbegehrte Rollen spielen – auch schön und gut. Aber darüber hinaus? Da scheinen Ängste vor einem Rückfall in magisches Denken, in allzu unbeweisbare Spekulationen eine Rolle zu spielen. Und freikirchliche sowie reformierte Traditionen stehen Engelsvorstellungen allgemein eher ablehnend gegenüber
Was sagt uns nun die Bibel, die ja der Ursprung christlicher Engelsvorstellung ist? Die ersten Engel in der Bibel begegnen uns bei der Vertreibung aus dem Paradies. Engel, sog, Cherubim mit dem Flammenschwert (1. Mose 2,24) sind es, die den Zugang zum Paradies verwehren. Und dann wird von Engeln erzählt in vielfältiger Gestalt und und ganz unterschiedlichen Funktionen. Von Schutzengeln (Matth. 18,10), die im Himmel ihren Platz haben über Engel in Menschengestalt (1. Mose 18,2) bis zu Engeln, die im jüdischen Tempel in der Gestalt von Serafim Gottes Lob singen: das "Heilig, heilig , heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll" (Jes. 6,3), das ja in unsere Abendmahlsliturgie eingegangen ist.
Allen gemeinsam aber ist, dass nicht ihr Aussehen entscheidend ist, sondern dass sie Gottes Boten sind. Gottes Botschaft kann Gericht bedeuten (Psalm 78, 49), meist aber Schutz und Segen verheißen, Freudenbotschaft überbringen (Luk. 2, 10+11). Nicht die Engel selbst werden im christlichen Glauben verehrt, sondern Gott, in dessen Auftrag sie handeln.
Von einigen Engeln werden auch Namen genannt, in der Tradition der Kirche wurden sie zu den "Erzengeln". Es sind dies vor allem Michael, Gabriel und Rafael: Rafael ist aus dem Buch Tobias bekannt, Gabriel ist der, der Maria die Geburt Jesu ankündigt und schließlich Michael, der Bezwinger des Drachens als Sinnbild des Bösen.
Michael: nach dem nun eben "Michaelis" genannt wurde. In der bildreichen und oft rätselhaften Sprache der Offenbarung des Johannes wird geschildert, wie Michael als Engelsfürst den Kampf gegen den Drachen und dessen Engel aufnimmt. Dieser Kampf findet im "Himmel" also im Reich Gottes statt. Dort wird der Drache, das Böse, besiegt und auf die Erde geworfen. In den Visionen des Johannes ist also die irdische Welt weiterhin Ort, an dem das Böse seine Macht spielen lässt.
In der christlichen Tradition ist diese kämpferische Vision von Michael aufgenommen worden. Er wird zu dem, der denen zur Seite steht, die den Kampf
gegen das Böse in der Welt aufnehmen. Und so wurde er auch zum "Engel mit dem Flammenschwert", er wurde weiter zu dem, der die guten und schlechten Taten der Menschen aufzeichnet, zum "Seelenwäger". Seine Farbe in der darstellenden Kunst ist Rot.
Soweit in kurzer Ausflug in biblische und kirchliche Traditionen über Engel. Und ich denke, dass auch im evangelischen Bereich sie durchaus ihren Platz haben können und sollen: nicht als Götter oder Göttinnen, nicht als magische Heilsbringer, nicht als niedliche Zierfiguren, sondern als Beauftragte, als Boten Gottes, die in unsere Welt hineinwirken, Gott sei Dank!
Martin Luther hat übrigens in seinem "Morgen- und Abendsegen" Engel genannt: Er betet: "Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde."
An den Morgensegen schließt er an: "Allsdann mit Freuden an dein Werk gegangen und etwa ein Lied gesungen oder was dir deine Andacht eingibt". Und an den Abendsegen: "Alsdann flugs und fröhlich geschlafen."
Also freuen wir uns, wenn Boten Gottes uns begegnen, in welcher Gestalt auch immer, die als Gottes gute Mächte uns umgeben wollen.
Von den Engeln zu den Fragen, wie es mit unserem Frauenbund weitergeht: Wir hoffen, dass wir uns in absehbarer Zeit sehen können, vermutlich nach der zur Zeit geltenden 3 G Regel. Wir werden uns melden, sobald wir da eine Möglichkeit gefunden haben.
Wir grüßen Sie alle ganz herzlich!
Karin Kiworr und Annelen Ottermann
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Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes,
vor einigen Jahren war ich zu einem 80. Geburtstag eingeladen, in das damals noch bestehende "Haus des Deutschen Weines". Für die Geburtstagsgesellschaft war im 1. Stock auf der Empore eine große Tafel gedeckt. Und wie das bei solchen Geburtstagen ist – es handelte sich um eine sehr unterschiedliche Gruppe: Familie, Verwandte, Freunde waren versammelt. Die jüngsten waren die Enkel, noch Schulkinder, die ältesten Freundinnen und Freunde aus verschiedenen Lebenszeiten. Und wie das auch oft üblich war, ich wurde gebeten, "ein paar Worte zu sagen". Aber dann passierte etwas Überraschendes – die Jubilarin bat mich plötzlich: "Können wir nicht einmal zusammen singen?" Und ich fragte, welches Lied sie sich denn wünschen würde. Die Antwort kam sofort: "Geh aus mein Herz und suche Freud." Nun gab es natürlich keine Gesangbücher, aber einige Strophen waren trotzdem bekannt. Und so sang die ganze Geburtstagsgesellschaft – mit schönen und weniger schönen Stimmen, Alt und Jung. Auf der Treppe sammelten sich rasch einige Leute, die schauen wollten, wo diese ungewohnten Klänge herkamen.
"Geh aus, mein Herz und suche Freud" von Paul Gerhardt
Wie kommt es, dass sich gerade dieses Lied von Paul Gerhardt solcher Beliebtheit erfreut – mittlerweile über 350 Jahre lang? Die Beliebtheit ist sicher nicht allein dem Text zu verdanken, sondern auch der Melodie. Allerdings ist gerade dieses Lied immer wieder neu vertont worden oder es wurden volkstümliche Melodien übertragen, so bereits in der ersten Druckfassung 1653, im musikalischen Andachtsbuch "Praxis Pietatis Melica" mit der Weis "Den Herrn meine Seel erhebt".
Die Melodie, die uns heute geläufig ist, stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert: Augustin Harder (1775–1813) hatte sie zu einem Frühlingslied ("Die Luft ist blau, das Tal ist grün") komponiert. Vergeblich war versucht worden, diese Melodie im Vorläufer des jetzigen Gesangbuchs durch eine andere zu ersetzen (komponiert von Walther Hensel), die Gemeinden rebellierten und in das jetzige EG wurde die ‚alte‘ Melodie wieder aufgenommen, die sich nun auch erstmals in der Neuauflage des Gotteslob, dem Gesangbuch unserer katholischen Schwestern und Brüder, findet. Auch sonst hat dieses Lied eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Natürlich war es immer ein Lied, das in Gottesdiensten gesungen wurde. In der Zeit der Aufklärung wurde es bereits umgestaltet, zu Beginn des 19. Jahrhunderts aber wurden neun Strophen in die Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" (Heidelberg 1808) aufgenommen. Der geistliche Kontext verlor an Bedeutung oder verschwand ganz, wandelte sich zum Volkslied, fand Aufnahme in mehrere Sammlungen von Volks- und Wanderliedern und wurde sogar Teil eines gewerkschaftlich orientierten Liederbuches. In der Folgezeit wurde es zuweilen parodiert oder mit ethischen und sozialen Appellen verbunden.
Aber kommen wir jetzt zum eigentlichen Liedtext: Selten werden ja alle Strophen gesungen. Wer aber einmal sein Gedächtnis trainieren will, kann sie ja alle auswendig lernen und dann auf Spaziergängen rezitieren …
Das Lied gliedert sich in zwei Teile: zunächst wird eine Sommerlandschaft vor unseren Augen gemalt. Wir können uns richtig vorstellen, wie der Dichter Paul Gerhardt einen Spaziergang durch die sommerlichen Gärten, Wiesen und Wälder macht, alles auf sich wirken lässt und die Eindrücke in Worte fasst – und das vor dem Hintergrund einer vom 30-jährigen Krieg verwüsteten Welt! Das eigene Herz – oder vermutlich eher ein geliebter Mensch ("geh aus mein Herz"; "und siehe, wie sie mir und dir ...") - wird eingeladen und aufgefordert, die Augen zu öffnen, um die wunderschöne Natur wahrzunehmen. Zur Freude wird gerufen! Für das überquellende Wachstum findet Paul Gerhardt ebenso Bilder wie für die Zartheit der Blüten oder die Klänge der Vogelwelt. Der Wein, der Honig, der Weizen werden gewürdigt. Es sind auch Zeilen dabei, die uns heute eher zum Schmunzeln anregen: etwa die: "die Wiesen liegen hart dabei und klingen ganz vom Lustgeschrei der Schaf und ihrer Hirten."
In der Naturschilderung klingt aber auch schon der Dank an - dafür, dass all das nicht 'einfach da', sondern Geschenk und Gabe Gottes ist. Der Dichter spürt, wie er ganz und gar erfüllt wird von Freude und Dank, die ihren Ausdruck im Singen finden. Das ist Inhalt der 8. Strophe, die in der Regel zu denen gehört, die auch im Gottesdienst gesungen werden.
Ab der 9. Strophe verändert sich der Blickwinkel. Er verlässt die irdische Welt, die wir mit unseren Sinnen erfassen und wendet sich der himmlischen Welt zu, die für Paul Gerhardt ebenso real ist wie die irdische. Und diese himmlische Welt wird mit Bildern der Bibel gefüllt. Die unmittelbare Beziehung zu Gott wird zum Zentrum, singend, lobend, jubelnd wird sie erlebt, in unvorstellbarer Klangfülle.
Ab der 12. Strophe kehrt der Liederdichter wieder in die irdische Welt zurück. Doch das Lob nimmt er mit und setzt es fort. Es folgt die Bitte, dass ihm selbst, seinem Geist und seiner Seele ein solches inneres Wachstum geschenkt werden möge, wie es in der Natur wahrgenommen wird. Zur Pflanze möchte der Dichter werden mit tiefen Wurzeln und schönen Blüten und Früchten. Als solche Pflanze möchte er Teil des göttlichen Gartens werden, der seine Vollendung in der kommenden Welt, im Paradies, findet.
Ich denke, dass dieses Lied eine kleine Kostbarkeit ist: Es will uns überwältigen lassen von der Schönheit, die uns umgibt, es will der Freude und dem Dank Raum geben und will unseren Blick auf Gottes Güte richten und auf die Hoffnung der kommenden Welt.
Natürlich wissen wir alle um die dunklen Seiten der Schöpfung und des eigenen Lebens. Aber es tut doch einfach gut, einmal diese dunklen Seiten nicht in den Mittelpunkt zu stellen, gerade jetzt in dieser Zeit, in der die Negativnachrichten manchmal alles zu überschatten drohen und die Natur auch ihre zerstörerische Macht zeigt.
So lassen wir uns doch von Paul Gerhardt mitnehmen auf den Weg von Hoffnung und Zuversicht, von tiefem Glauben, der neue Kräfte weckt und die Grenzen der sichtbaren Welt überschreitet. Soweit zu diesem Lied – wer den Märzbrief aufbewahrt hat, kann ihn auch nochmal zur Hand nehmen, um die "Reise durch’s Gesangbuch" nachzulesen, die dort ebenfalls Paul Gerhardt galt.
Nun noch etwas, das unseren Ortsverband betrifft: Wir haben uns am 29.07.2021 zu einer Vorstandssitzung getroffen, in der Hoffnung, vielleicht doch in absehbarer Zeit wieder zu einem gemeinsamen Nachmittag des Ortsverbands Mainz einladen zu können. Nachdem die Zahlen der Neuinfektionen aber wieder steigen, wollen wir damit noch warten. Aber falls es im Herbst doch ein Möglichkeit geben sollte, so werden wir Sie so schnell wie möglich informieren. Es wäre doch so schön, wenn wir uns wieder einmal sehen könnten!
Für heute grüßen wir Sie ganz herzlich und wünschen Ihnen eine behütete und möglichst unbeschwerte Sommerzeit.
Ihre Karin Kiworr und Annelen Ottermann
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Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes,
Reisen sind ja immer noch nur wenig möglich. Deswegen lädt uns Annelen Ottermann zu einer anderen Reise, einer "Reise durchs Gesangbuch" ein. Im Mittelpunkt steht Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, ein Liederdichter, der in einer ganz eigenen Ausprägung seines persönlichen Glaubens seine Lieder geschrieben hat.
Reise durchs Gesangbuch
Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und der Pietismus
Als Begleiter unserer Reise durchs Gesangbuch hatten wir in Folge 6 den Barockdichter Paul Gerhardt gewählt und waren erstaunt, wie nah und vertraut uns viele seiner Texte noch heute sind – trotz der zeitlichen Distanz von mehr als 400 Jahren und manch fremden Bildern und Gedanken. Paul Gerhardt hat es uns leicht gemacht. Anders sieht es bei dem Liederdichter aus, den wir in der neuen Folge beleuchten wollen: Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (*1700 in Dresden; + 1760 in Herrnhut), der uns zeitlich zwar näher, aber insgesamt doch deutlich ferner ist.
Versuchen wir es trotzdem und lassen uns diesmal vor allem auf Zeit und Biographie dieser Persönlichkeit ein: Unser Gesangbuch bietet im Anhang einen sehr hilfreichen liedgeschichtlichen Überblick und gliedert das kirchliche Liedgut nach den großen geistesgeschichtlichen Epochen.
Zinzendorf gehört dem Pietismus des 18. Jahrhunderts an und steht damit zwischen der Zeit des Frühpietismus nach dem Dreißigjährigen Krieg und der Aufklärung. Der Pietismus war die bedeutendste religiöse Erneuerungsbewegung im Protestantismus Europas nach der Reformation. Seiner Frühphase wie auch der Blütezeit gemeinsam ist die starke Verinnerlichung des religiösen Lebens, die Betonung einer unmittelbaren Beziehung des Individuums zu Jesus, in dessen entschiedener Nachfolge das gesamte Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft Gleichgesinnter stand. Dogmatische Streitgespräche und konfessionelle Abgrenzungen, die das religiöse Leben im 16. und 17. Jahrhundert bestimmt hatten, traten in den Hintergrund und machten dem persönlichen Erbauungs- und Erweckungserlebnis Platz. Die Sehnsucht nach einer innigen, fast intimen Glaubensbeziehung zu Jesus Christus fand anfänglich ihren Ausdruck durch Gebete und Lieder in den privaten Bibelkreisen, erfasste aber in der Hoch-Zeit des Pietismus ganze Landeskirchen, Universitäten, Adelskreise und Fürstenhöfen.
Nikolaus Ludwig entstammte dem österreichischen Uradelsgeschlecht der Grafen und Herren von Zinzendorf. Nach dem sehr frühen Tod des Vaters erzog ihn seine fromme Großmutter Henriette Katharina von Gersdorff auf ihrem Witwensitz Gut Großhennersdorf in der Oberlausitz. Ihr Denken jenseits konfessioneller Grenzen beeindruckte den Jungen nachhaltig und ließ ihn zeitlebens nach Ausgleich und Vermittlung zwischen unterschiedlichen Glaubensrichtungen suchen. Prägend wurde für ihn die Zeit auf dem Königlichen Pädagogium in Halle, der damals fortschrittlichsten Schule. Als "Erziehungs- und Bildungsanstalt für Kinder aus dem Adel und dem reichen Bürgertum" war sie von August Hermann Francke, dem wichtigsten Vertreter des lutherischen Pietismus, ins Leben gerufen worden.
Statt des Wunschstudiums der Theologie hatte Zinzendorf nach Vorgabe seines Vormunds in Wittenberg Jura zu studieren und absolvierte im Anschluss die für Angehörige seines Stands gemäße Kavalierstour zu europäischen Metropolen, die ihm Zugang zu den höchsten adligen und königlichen Höfen verschaffte. Die Begegnung und Freundschaft mit dem mächtigsten Kardinal Frankreichs bestätigte und bestärkte seine von ökumenischer Weite gekennzeichneten Religiosität.
Frühe Vertrautheit mit Kirchenliedern, Bibelstudium und das Erleben intensiver christlicher Gemeinschaft waren grundlegende und lebensbestimmende Elemente für Zinzendorf, bestimmten seine Frömmigkeit und schufen strenge religiöse Grundsätze, an denen er auch in den Zeiten von Studium und Bildungsreisen diszipliniert und unbeirrbar festhielt.
Die barocke Verschwendungssucht Kurfürst August des Starken, seines Landesherrn, und dessen aus politischem Kalkül vollzogene Konversion zum Katholizismus kritisierte Zinzendorf, doch hielt ihn das nicht davon ab, für mehr als ein Jahrzehnt die sichere Stellung eines Hof- und Justizrats am sächsischen Hof anzunehmen.
Gegen Ende dieser Zeit erwarb Zinzendorf von seiner Großmutter Gut Berthelsdorf in der Oberlausitz, nahm im umgebauten Schloss mährische Glaubensflüchtlinge auf und ermöglichte ihnen, sich am dortigen Hutberg niederzulassen. Die Böhmischen Brüder, eine bis ins Spätmittelalter zurückgehende religiöse Gemeinschaft, gaben ihrer Ansiedlung den symbolischen Namen "Herrn-Hut" und konstituierten sich 1727 als eigenständige "Herrnhuter Brüdergemein(!)e" neu. Zu ihren Kernaufgaben sollte bald die Missionsarbeit auf mehreren Kontinenten gehören.
Viele von uns schätzen die "Herrnhuter Losungen" , das in 50 Sprachen übersetzte protestantische Andachtsbuch mit der größten Verbreitung weltweit. Es hat seinen Ursprung in Zinzendorfs Singstunden der Brüdergemeine genommen und erscheint seit dem Erstdruck von 1731 bis heute ununterbrochen, immer mit einer ausgelosten Passage aus dem Alten Testament, einen dazu passenden neutestamentlichen Text und einem Lied oder Gedanken als drittem Element.
Der studierte Jurist und theologische Autodidakt Zinzendorf, der zwischenzeitlich als lutherischer Theologe ordiniert worden war, bestimmte die Religiosität der Brüdergemeine voll umfänglich. Ihre Eigenständigkeit lebte sie so ausgeprägt aus, dass sie von der sächsischen Landeskirche als Gefährdung angesehen wurde und Zinzendorf als ihr geistiger Vater das Kurfürstentum vorübergehend verlassen musste, später aber als Prediger und mit seiner Herrnhuter Gemeinde toleriert wurde.
Zinzendorf bezeichnete das Gesangbuch als "eine Art Antwort auf die Bibel, ein Echo, eine Fortsetzung" und maß den Liedern in den gemeindlichen Singstunden und Gottesdiensten einen sehr großen Raum ein. Um den Brüdern das Liedgut leichter zugänglich zu machen, brachte Zinzendorf neue Gesangbuch-Ausgaben heraus, so 1725 die "Sammlung Geist- und lieblicher Lieder", mehrfach aufgelegt und mit Anhängen versehen.
Von den rund 2000 Liedern, die Zinzendorf textete, haben es in die aktuelle Ausgabe unseres Evangelischen Gesangbuchs nur sechs geschafft, aber nur drei werden in unseren Gottesdiensten gesungen: "Herr, dein Wort, die edle Gabe, diesen Schatz erhalte mir" (198), "Herz und Herz vereint zusammen sucht in Gottes Herzen Ruh" (251) und dann vor allem das wohl bekannteste "Jesu geh voran auf der Lebensbahn" (391), ein auf zwei Gedichte Zinzendorfs fußendes Pilger- und Nachfolgelied.
Nur den wenigsten dürfte bewusst sein, dass sie seit Kindertagen vor dem Essen ein Gemeinschaft stiftendes Tischgebet sprechen, das auf Zinzendorf zurückgeht: "Komm, Herr Jesu, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast." Im Gesangbuch ist es bei den Gebeten unter Nr. 836 berücksichtigt.
In der Fachliteratur wird Zinzendorf durchgängig als einer der bedeutendsten Dichter des Pietismus gewürdigt, zugleich aber wird betont, dass diese große Persönlichkeit der Frömmigkeitsgeschichte schwierig, voller Spannungen und Eigenwilligkeiten gewesen ist. Diese Ambivalenz äußert sich auch in seiner Lyrik, in der wir geniale Reime und große mystische Sprachbilder als Ausdruck seiner empfindsamen seelischen Regungen würdigen und zugleich befremdet auf seine Herzensergüsse, seine übersteigerte Blut- und Wunden-Theologie, die innige Heilands-Nachfolge und Formulierungen von übersteigerter Innigkeit und Erbaulichkeit reagieren.
Und das geht interessanterweise nicht nur uns so: Schauen wir auf die Quellenangaben unter den Liedern Zinzendorfs im Gesangbuch, so stoßen wir zweimal auf den Hinweis, sie seien 1778 überarbeitet worden. Tatsächlich hat schon die Generation nach Zinzendorf seine Bildersprache als schwer erträglich, extravagant und teilweise anstößig empfunden. Der Oberlausitzer Geistliche und Kirchenmusiker und spätere Bischof in Herrnhut, Christian Gregor, bearbeitete eine Vielzahl von Versen Zinzendorfs, kürzte, schrieb um und strich, damit sie für das Gesangbuch der Brüdergemeine wieder singbar und in ihren Aussagen begreifbar wurden.
Dass ihm dies gelungen ist, beweisen unsere Gesangbuchnummern 251 und 391 – doch überzeugen Sie sich selbst!
Soweit die "Reise durch das Gesangbuch". Wir hoffen, dass diese Reise Ihnen Freude gemacht hat. Vielleicht haben Sie selbst auch schon einmal die Gelegenheit gehabt, Herrnhut zu besuchen. Der Ursprungsort der weltweiten Brüder-Unität ist ja bis heute lebendiges Erbe und lässt seine jahrhundertealte Geschichte an verschiedenen Einrichtungen und Sehenswürdigkeiten im Ort erleben und spüren.
Für den Monat Juni grüßen wir Sie ganz herzlich. Bleiben Sie gesund und behütet!
Ihre Karin Kiworr und Annelen Ottermann
MAIBRIEF 2021
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Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes,
vielleicht erinnern sich einige von Ihnen an eine gemeinsame Wanderung durch den Botanischen Garten in Mainz. Herr Prof. Zwickel hatte uns damals geführt: Im Jahr 2001 war im Botanischen Garten eine Sonderausstellung eröffnet worden unter dem Thema "Pflanzen der Bibel". Aber nicht nur in Mainz – unter wissenschaftlicher Leitung –, sondern auch in sehr vielen Kirchengemeinden in ganz Deutschland entstanden in den vergangenen Jahren "Bibelgärten" als Oasen der Stille und der blühenden Schönheit.
Nun ist der Monat Mai ja wie kein anderer im Jahr der Monat, an dem die Natur gleichsam explodiert: überall wächst und blüht es, Vögel singen und der Duft von frischem Gras und blühenden Blumen erfüllt die Luft. Und wie gut tut das gerade in dieser Coronazeit nach den langen Monaten des Winters!
Pflanzen der Bibel
Und so soll heute einmal das Thema dieses Briefes "Pflanzen der Bibel" sein. Denn die Bibel ist voll von Pflanzenbezeichnungen, von Schilderungen einzelner Pflanzen, von Gleichnissen, in denen Pflanzen zum Sinnbild werden. Das beginnt bereits in der Schöpfungsgeschichte, in der der Erschaffung der Pflanzen besonderes Augenmerk gilt, verbunden mit dem Auftrag zu bebauen und zu bewahren (Genesis 1, ,11 ff und Genesis 2, 15). Allerdings geht es bei den Beschreibungen in der Bibel nie einfach nur um botanische Klassifizierung, sondern immer um eine Aussage, die in Beziehung zum Glauben steht.
Eine wichtige Rolle spielen 7 bestimmte Pflanzen, die den Reichtum des verheißenen Landes andeuten, das Land, in das die Israeliten der Überlieferung gemäß nach der Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei von Gott geführt wurden.
Die Sieben ist ja eine heilige Zahl, die Zahl der Vollkommenheit. Und die "7Arten" die genannt werden, sind Weizen, Gerste, Weinstock, Feige, Granatapfel, Ölbaum und Dattel. So heißt es im 5. Buch Mose (Deuteronomium): "Wenn der Herr, dein Gott, dich in ein prächtiges Land führt, ein Land mit Bächen, Quellen und Grundwasser, das im Tal und am Berg hervorquillt, ein Land mit Weizen und Gerste, mit Weinstock, Feigenbaum und Granatbaum, ein Land mit Ölbaum und Honig, ein Land, in dem du nicht armselig dein Brot essen musst, in dem es dir an nichts fehlt (…), dann vergiss den Herrn, deinen Gott nicht." "Honig" bezieht sich dabei wohl auf die Früchte der Dattelpalme, aus denen ein honigartiger Sirup gewonnen wurde.
Von diesen 7 Arten habe ich heute einmal die Feige gewählt, die eingangs auf dem Bild zu sehen ist:
Seit frühester Zeit ist sie eine Kulturpflanze, die überall im Mittelmeerraum anzutreffen ist, vermutlich aber ursprünglich aus den asiatischen Tropen stammt und evtl. von der Assyrern in dieses Gebiet gebracht worden ist. Nicht nur in Vorderasien, sondern z. B. auch in Griechenland ist ihr Vorkommen seit 1600 v. Christus bezeugt. Im alten Ägypten galt sie als heiliger Baum. Bei Ausgrabungen in Geser, einer Stadt westlich des judäischen Gebirges, wurden getrocknete Feigen aus der Zeit 5000 v. Chr. gefunden.
"Feige" ist eigentlich nur der Oberbegriff für eine mehrere 100 Arten umfassende Gattung. Aber nur die sog. "echte Feige" (ficus carica) war für die Ernährung wichtig. Was ist das Besondere: Sie verfügt über einen sehr hohen Zuckergehalt, konnte getrocknet oder zu Fladen gepresst für die Zeit gelagert werden, in der keine frischen Früchte verfügbar waren. Und - sehr wichtig in einem Gebiet, in dem Wasser eine Kostbarkeit ist - sie kommt mit wenig Wasser aus und spendet Schatten als ein Baum, der immerhin etwa 5 Meter hoch werden kann. Die sog. Maulbeerfeige (die aber als Nutzpflanze unwesentlich ist) kann sogar 10 - 15 Meter hoch werden.
Die hebräische Bezeichnung für den Feigenbaum ist teenah die Früchte heißen teenim, ein Kuchen aus getrockneten Feigen develah. In viele Eigennamen sind diese Namen eingegangen.
In der Bibel ist die Feige der erste Baum, der namentlich genannt wird: Im Garten Eden bedecken Adam und Eva nach dem Sündenfall ihre Nacktheit mit einem Feigenblatt. Zahlreiche Stellen nennen sie in ihrer Bedeutung für die Ernährung, unter dem Feigenbaum zu sitzen, gilt als Zeichen des Wohlbehagens (Micha 4, 3 - 4), die Zeit des Reifens ist die Zeit der Fülle und der Freude (Hoheslied 2, 11 - 13).
In den Evangelien finden wir sie in zwei Gleichnissen Jesu: Zum einen Matthäus 24, 32 - 33: Jesus nimmt sie zum Sinnbild dafür, wie das nahende Weltende zu erkennen ist. Zum anderen Lukas 13, 6 - 9, wo sie Beispiel für die Geduld Gottes ist.
Das war eine kleine Beschreibung einer der wichtigen biblischen Pflanzen. Vielleicht besitzen sie ja selbst in Ihrem Garten einen Feigenbaum – mir wurde vor 2 Jahren einer geschenkt, der allerdings bisher noch keine Früchte getragen hat. Offenbar brauche ich auch noch etwas Geduld und er vielleicht etwas mehr Pflege! Aber auf den Wochenmärkten finden Sie die frischen Feigenfrüchte, wenn Erntezeit ist, und getrocknete Feigen ohnehin das ganze Jahr.
Und nun wüschen wir Ihnen allen einen Monat, in dem Sie sich an dem erfreuen können, was zu wachsen und zu blühen beginnt, trotz allem, was uns zurzeit ja noch mit Sorge erfüllt. Aber vielleicht dauert es ja nicht mehr so lange, bis wir uns tatsächlich einmal wieder sehen können.
In dieser Hoffnung grüßen wir Sie ganz herzlich. Gott behüte Sie!
Ihre Karin Kiworr und Annelen Ottermann
MÄRZBRIEF 2021
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Liebe Freundinnen und Freunde unseres Frauenbundes!
Jetzt ist es ein ganzes Jahr her, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Am 9. März 2020 fand unsere letzte Veranstaltung oben auf dem Lerchenberg in der gewohnten Form statt mit Kaffee und Kuchen und einem Vortrag mit Aussprache. Keine von uns hätte wohl damals sich auch nur entfernt vorstellen können, was diese Pandemie für uns alle bedeuten würde. In dieser Woche vom 9.-16. März 2020 trafen wir uns im Frauenbund, ich hatte eine letzte Chorprobe, die Schulen waren noch geöffnet. Am Sonntag damals hätte ich einen Gottesdienst halten sollen, der am
Freitag davor abgesagt wurde. Und ab Montag begann der 1. Lockdown! Und noch immer wissen wir nicht, wann sich das ändern wird.
Aber bei allen Einschränkungen empfinde ich es nach wie vor erstaunlich, mit wie viel Phantasie Ideen entwickelt werden, die neue Möglichkeiten erschließen auf so vielen Gebieten. Und so spricht auch der Leitspruch für die Passionszeit, in der wir uns ja befinden, in diesem Jahr nicht von einem Verzicht, sondern von einer Befreiung. "Sieben Wochen ohne Blockaden" heißt er. Er will uns einladen dazu, nicht auf das Negative zu schauen, sondern auf das, was möglich ist. Er will uns aufmerksam machen auf die Bereiche, in denen wir uns selbst blockieren. Und ich denke, jeder und jede von uns kennt im eigenen Leben solche Blockaden, die uns in Mauern einschließen, die wir selbst aufbauen und durch die wir uns von gelingendem Leben trennen. Passion ist ja nicht nur ein Gedenken an die Leidenszeit Jesu, sondern will immer in das eigene Leben hineinwirken. Und Passion Christi ist eine Befreiungsgeschichte, Befreiung von den zerstörerischen Mächten der Angst und des Zweifels.
Und auf diesem Weg kann die "Reise durchs Gesangbuch" von Dr. Annelen Ottermann Anregung und Hilfe sein, in der wir den fröhlichen und von tiefstem Vertrauen geprägten Glauben Paul Gerhardts besser kennen lernen.
Reise durchs Gesangbuch
Paul Gerhardt, der Sänger des fröhlichen Glaubens
Unsere Reise durchs Gesangbuch führt uns zu Paul Gerhardt. Damit knüpfen wir an den vorherigen Beitrag dieser Serie an, in dem wir Jochen Klepper als ihm ebenbürtig genannt hatten. Klepper, den Psalmisten unserer Tage, hatten Paul Gerhardts Lieder im Leben und sogar bis in seine letzte Todesstunde begleitet.
In der Literaturgeschichte lassen sich viele Dichterinnen und Dichter finden, die sich mit Paul Gerhardt auf ganz unterschiedliche Art und Weise beschäftigt haben, die aber allesamt von seiner geistlichen Lyrik beeindruckt waren: Zu nennen sind etwa Christian Fürchtegott Gellert, Gottfried August Bürger, Matthias Claudius, Friedrich Hebbel, Joseph Freiherr von Eichendorff, Theodor Fontane, Heinrich und Thomas Mann, Hermann Hesse, Gottfried Benn, Albrecht Goes, Stephan Hermlin, Gabriele Wohmann, Günter Grass und Eva Zeller.
Die musikalische Vertonung der meisten Gerhardt-Texte leistete Johann Crüger, der Kantor an der Berliner Nikolaikirche, für dessen "Übung der Gottseligkeit in christlichen und trostreichen Gesängen" Gerhardt 1653 in der 2. Auflage 83 Lieder beisteuerte. Crügers Nachfolger Johann Georg Ebeling schuf ebenfalls Melodien und Chorsätze zu Gerhardts Dichtungen. Ganz wichtig für die Bekanntheit Paul Gerhardts wurde Johann Sebastian Bach, in dessen Kantaten, Oratorien und Passionen sich mehr als 30 Chorsätze zu seinen Liedern finden.
Und auch wir selbst sind geprägt von Paul Gerhardt-Liedern, haben viele insgesamt oder in Zitaten und einzelnen Formulierungen im Ohr. Dass wir aber oftmals gar nicht wissen, wer diese Zeilen gedichtet hat, ist symptomatisch: Paul Gerhardt verschwindet hinter seinen Texten, obwohl er doch dazu gehört! Unsere Reise streift deshalb auch das Leben dieses Barockdichters, der vor mehr als 400 Jahren in Gräfenhainichen geboren wurde und nach dem Besuch der elitären Fürstenschule in Grimma Theologie im nahen Wittenberg studiert hatte. Die von Kriegen, Hungersnöten, Seuchen und Vertreibungen geprägte Zeit war unruhig, ihre Strukturen in Auflösung, ihre Menschen verunsichert. Nicht allein die 30 Kriegsjahre und all ihre Folgen erlebte Gerhardt mit, er musste auch von klein auf persönliche Schicksalsschläge in der engsten Familie hinnehmen, den Tod beider Eltern und von Geschwistern und dann später als Familienvater in dichter Folge das sehr frühe Sterben von vier seiner fünf Kinder.
Auch konfessionell waren die Zeiten instabil und krisengeschüttelt. Paul Gerhardt selbst wurde Opfer der konfessionellen Wechsel und Auseinandersetzungen zwischen Lutheranern und Reformierten. Nach seiner ersten Pfarrstelle in brandenburgischen Mittenwalde berief ihn der Berliner Magistrat auf die zweite Diakonatsstelle an der Nikolaikirche zu Berlin. Dort wurde er 1667, im Todesjahr seiner Frau, des Amtes enthoben, weil er den Eid auf das Toleranzedikt Friedrich Wilhelms, des Großen Kurfürsten, verweigerte, das den lutherischen Geistlichen politische Stellungnahmen und polemische Äußerungen gegen die Reformierten untersagte. Nach 10 Jahren wechselte der lutherische Prediger daraufhin in den Spreewald nach Lübben, wo er 1676 starb. Die damalige Nikolaikirche, in der er begraben wurde, trägt seit 1930 seinen Namen.
Uns mutet es heute fast unverständlich an, wie Paul Gerhardt unter so schwierigen Umständen zum Sänger des fröhlichen Glaubens werden und seine christliche Überzeugung in die Worte kleiden konnte, die ihn zu einem der größten Kirchenlieddichter machen sollten.
Das Leitseil seines Lebens war das Vertrauen auf die Treue Gottes, und davon legen seine Dichtungen Zeugnis ab. Es sind 139 deutschsprachige und 15 lateinische Texte Liedtexte, die von Paul Gerhardt überliefert wurden. Wer sie in ihrer Gesamtheit betrachtet, erkennt, dass der Dichter nichts ausblendete, nichts beschönigte, sondern sich dem Leben stellte, den ganzen Menschen, die ganze Schöpfung, Sonne, Mond und Sterne, Alltage und Festtage, Jahreszeiten, Schwellensituationen des Lebens, Ehe und Familie, Helles und Dunkles, Freudiges und Tragisches, Kriege, Krankheiten, Hungersnöte, Seuchen, Schicksalsschläge, menschliche Laster und menschliche Leistungen in den Blick nahm und zum Gegenstand seiner Dichtung machte.
Gerhardt beherrschte die Kunst der barocken Versdichtung so virtuos, dass sie nicht gekünstelt wirkte. Dabei blieb seine Sprache in ihrer Klarheit und Schlichtheit bewusst volks- und lebensnah und den Menschen des 17. Jahrhunderts unmittelbar zugänglich.
Auch heute noch erreicht und berührt uns seine Dichtung und besitzt eine starke Beharrungskraft – trotz mancher sperriger Formulierungen und rätselhaft-befremdlich wirkender Bilder und Vorstellungen, die unverkennbar aus einer vergangenen Zeit stammen. Mehr noch: Seine Lieder und Gedichte gehören neben Grimms Märchen und noch vor Luthers Bibelübersetzung zu den bekanntesten deutschsprachigen Texten überhaupt. Das ist das Faszinierende an Paul Gerhardt, dass er es vermocht hat, mit seinen Texten den Abstand von 400 Jahren zu überbrücken. Aus einer konfessionell aufgeladenen und unbefriedeten Epoche kommend, schaffte er es über seine Lieder, Brücken zwischen den Konfessionen zu bauen. Seine Texte fanden Eingang in die Gesangbücher der reformierten und freikirchlichen Gemeinden. Wie ein Blick in das aktuelle "Gotteslob", das Gesangbuch unserer katholischen Schwestern und Brüder, zeigt, wurden 8 Lieder des Dichters aufgenommen, eines davon findet sich im Mainzer Diözesanteil. (GL 81, 101, 256, 289, 369, 403, 418, 814) Auch sprachliche Grenzen half er zu überschreiten, wurden doch Paul Gerhardt-Lieder in viele europäische, ja sogar afrikanische und asiatische Sprachen übersetzt.
Schlagen wir nun unser Evangelisches Gesangbuch auf: Was hat darin Eingang gefunden, was ist geblieben? Ein Blick ins Register führt uns zu 26 Liedern von Paul Gerhardt, und diese starke Präsenz ist ganz wesentlich für die Breitenwirkung und Bekanntheit seines Schaffens verantwortlich.
Die 26 Nummern sind auf fast alle Kapitel des Gesangbuchs verteilt: das Kirchenjahr mit Advent (Wie soll ich dich empfangen), Weihnachten (Fröhlich soll mein Herze springen; Ich steh an deiner Krippen hier; Kommt uns lasst uns Christum ehren), der Jahreswende (Nun lasst uns gehn und treten), Passion (Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld; O Welt, sieh hier dein Leben; O Haupt voll Blut und Wunden), Ostern (Auf, auf, mein Herz mit Freuden) und Pfingsten (Zieh ein zu deinen Toren); der Lauf des Tages vom Morgen zum Abend (Wach auf, mein Herz und singe; Lobet den Herren, alle, die ihn ehren; Die güldne Sonne; Nun ruhen alle Wälder), Natur und Jahreszeiten (Geh aus, mein Herz und suche Freud), Arbeit (Ich weiß, mein Gott, dass all mein Tun), Sterben und Ewiges Leben (Ich bin ein Gast auf Erden), Angst und Vertrauen (Befiehl du deine Wege; Warum sollt ich mich denn grämen?; Gib dich zufrieden und sei stille), Rechtfertigung und Zuversicht (Ist Gott für mich, so trete), Psalmen und Lobgesänge (Herr, der du vormals hast dein Land; Du meine Seele, singe), Loben und Danken (Nun danket all und bringet Ehr; Ich sing dir mit Herz und Mund; Sollt ich meinem Gott nicht singen?).
So viele dieser Liednummern sind uns mit einzelnen Strophen im Schlaf vertraut; sie sind in Text und Melodie in unserem spirituellen Vorratslager und musikalischen Gedächtnis abgespeichert – ein mobiler Liederschatz, jederzeit abrufbar, wenn wir ihn brauchen. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee, dass man ihn früher im Konfirmandenunterricht auswendig lernen ließ??
Es würde den Platz sprengen, wollten wir ausführlich auf alle äußerst strophenreichen Liedtexte eingehen. Stellvertretend sei deshalb hier nur auf drei Nummern hingewiesen:
Da ist das Lied "Ich singe dir mit Herz und Mund", das Gerhardts Lebensüberzeugung und auch seinen selbst gewählten Auftrag verdeutlicht: von Gottes Liebe zu singen, egal, wie das Leben gerade spielt, singen als Dank und Lob, singen als Trost und Seelsorge, singen gegen die Angst. Oder "Fröhlich soll mein Herze springen", das herrliche Weihnachtslied, dessen Metrum durch die von Gerhardt eingesetzten Hebungen (1 x 4, 2 x 2, 1 x 3 betonte Silben pro Zeile) die Worte ins Schwingen versetzt, sie hüpfen lässt. Und dann natürlich "Befiehl du deine Wege", ein dichterisches Kunstwerk, bei dem die Anfangsworte der zwölf Strophen als so genanntes Akrostichon den Psalmvers 37,5 bilden: "Befiehl dem Herren dein’ Weg und hoff auf ihn, er wird’s wohl machen". Gerhardt setzt hier die für seine Zeitgenossen und sich selbst bestimmende Spannung des Christen zwischen menschlichem Unbehaustsein und Beheimatung bei Gott lyrisch um und legt mit diesem Weg- und Vertrauenslied ein uns bis heute berührendes Zeugnis als Wanderer im Glauben ab.
Schaffen wir es, zumal in diesem uns so viel abverlangenden Jahr, auch nur ein Quentchen davon zu übernehmen?
Lassen wir uns also anstecken von diesem Glauben! In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen eine gesegnete Passionszeit und ein zuversichtliches Hingehen auf Ostern!
Ihre Karin Kiworr und Annelen Ottermann
JAHRESLOSUNG 2021
Bild: Stefanie Bahlinger
Liebe Freundinnen, liebe Freunde unseres Frauenbundes!
In den vergangenen Jahren fand unsere erste Zusammenkunft des Frauenbundes im
Neuen Jahr immer Mitte Januar statt und Thema war die jeweilige neue
Jahreslosung, die – anders als die täglichen "Herrnhuter Losungen" -
von einem ökumenischen Gremium ausgewählt wird. Nun können wir in diesem Jahr
nicht zusammen sein, aber die Jahreslosung soll doch im Mittelpunkt dieses 1. Briefes
im Neuen Jahr stehen. Sie findet sich im Lukasevangelium, im 6. Kapitel, Vers 36:
"Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist."
"Barmherzig" sein – ein heute nicht mehr so häufig gebrauchtes Wort. Und es hat,
wenn es denn benutzt wird, einen eher negativen Beigeschmack: Wer möchte schon
auf Barmherzigkeit angewiesen sein! Aber die Barmherzigkeit spielt im Judentum,
im Christentum und im Islam eine bedeutende Rolle. Sie ist eine Kennzeichnung
Gottes, der als der Barmherzige geglaubt wird. Es ist sinnvoll, hier einmal auf die
sprachlichen Ursprüngen dieses Begriffes zu schauen:
Im Hebräischen ist es der Plural von rächäm: rachamim, im Griechischen im Lukasvers
ein etwas selten gebrauchtes Wort: oiktirmon, im lateinischen misericordia.
Das Lateinische im am einfachsten zu übersetzen: "ein Herz für die Armen haben."
Und so haben zahlreiche Bilder der Jahreslosung auch ein Herz dargestellt. Im
Griechischen bedeutet es " Mitleid haben" oder "barmherzig sein". Und schillernd ist
dieser Begriff im Hebräischen: Er kann "Mutterleib" (Singular) bedeuten, "Eingeweide"
als Sitz des tiefsten Mitgefühls, und dann eben "Erbarmen" und "Barmherzigkeit".
Bleiben wir einmal die dem hebräischen rachamim. Da ist Barmherzigkeit oder
Erbarmen tatsächlich eine Wesensäußerung Gottes, die seinem Innersten entspringt,
die eine Geborgenheit schenken will, wie sie ein ungeborenes Kind im Mutterleib
erfährt.
Das Bild, das ich ausgewählt habe, lässt diese Geborgenheit ahnen. Das Kind ist
umfangen von einer Hülle, wie eben ein Embryo im Mutterleib, aber es ist bereits
eingehüllt in ein weißes Tuch, auf dem das Kreuzeszeichen sichtbar ist. Es ruht auf
einem roten Untergrund, der sich in Orangetöne wandelt und nach oben hin in weiße
Linien auflöst. Weiß – die Farbe Jesu Christi, Orange, die Farbe des Heiligen Geistes,
Rot, die Farbe der Kirche. Gemalt ist das Bild auf einfachem Sackleinen. Gebrochene
Linien durchziehen das Bild, doch die weißen werden zu einer Art gotischem
Spitzbogen zusammengeführt.
Ich denke, damit hat die Künstlerin Stefanie Bahlinger versucht, das Wesen der
Göttlichen Barmherzigkeit anzudeuten: sie ist von einer ungeheuren Spannung erfüllt:
Zerrissene Linien, einfachstes Leinen auf der einen Seite, tiefste Geborgenheit auf
der anderen Seite. In diesem Kind begegnen wir ihr, in diesem Kind in der Krippe, das
wir an Weihnachten gefeiert haben. Es kommt und erlebt die zerrissenen Linien
unserer Welt. Es erlebt die äußere und innere Armut unserer Welt und ist zugleich
zutiefst geborgen in der göttlichen Welt und schenkt Geborgenheit.
Im Kreuz liegt beides: das ungeschönte Leid und seine Heilung. Und so kann das Kind
helfen, dass die zerrissenen Linien sich zusammenfinden in Bögen, die nach oben
streben.
Barmherzigkeit Gottes: sie will für jeden von uns erfahrbar werden in der Begegnung
mit ihm. Sie will uns umhüllen mit einer Geborgenheit, aus der uns nichts reißen kann,
kein persönliches schweres Geschick, kein Coronavirus, nicht all das in der Welt, das
uns mit tiefer Sorge erfüllen mag. Sie will uns die Augen und die Herzen öffnen, wenn
wir vom Kind in der Krippe kommen, Spuren dieser Barmherzigkeit auch in unserem
Alltag wahrzunehmen.
Aber sie will uns auch mit neuem Mut erfüllen: "seid barmherzig", so beginnt ja die
Jahreslosung. Sie will uns barmherzig werden lassen, auch mit uns selbst. Aber dann
will sie uns auch aufbrechen lassen zum Menschen neben mir, zur Welt in der ich lebe.
Sie will uns mit Phantasie und Tatkraft erfüllen, die Not anderer zu sehen. Und dieses
eigene "Barmherzig-Werden" , das kann nur auf dem Boden sich entfalten, der
genährt ist von der Barmherzigkeit Gottes.
Ich glaube, in diesem vergangenen letzten schweren Jahr haben wir bereits viel
erfahren von solch tätiger Barmherzigkeit. Wie mit so viel Phantasie überlegt wurde,
wie denen geholfen werden konnte, die plötzlich auf Hilfe angewiesen waren. Wie in
vielen Berufen neue Wege des Miteinanders gesucht wurden. Wie Gemeinden mit
großem Einsatz versucht haben, auf bisher noch nie erprobten Wegen zu verkündigen
und Begegnungen untereinander zu ermöglichen - wenn auch meist auf virtuelle Weise.
Wie auch Humor und Fröhlichkeit immer wieder dunklere Stunden erhellt haben – wie
viele unvergessliche Videos sind in dieser Zeit verschickt worden!
Ich glaube, dieses vergangene Jahr hat uns einmal innehalten lassen, dass wir uns
darauf besinnen konnten, was wichtig ist im Leben. Und es hat uns vielleicht spüren
lassen, wie die Barmherzigkeit Gottes in seiner Kirche lebendig sein will, wie sein
Geist uns Freude und Mut schenken will.
So möge Gott uns barmherzig werden lassen in diesem neuen Jahr.
Ich wünsche Ihnen allen ein gesegnetes Jahr 2021.
Ganz herzliche Grüße!
Ihre Annelen Ottermann und Karin Kiworr
120 Jahre Deutscher Evangelischer Frauenbund e. V. - eine kleine Skizze
Der Bundesverband des Deutschen Evangelischen Frauenbunds e. V. (DEF) hat zu seinem 120-jährigen Jubiläum nach Hannover vom 18. bis 20. Oktober 2019 eingeladen – und alle kamen.
Tagungsort ist das evangelische Stefansstift mit hellen Räumen und Übernachtungsmöglichkeiten, guter Verpflegung und vielen Orten für Begegnungen außerhalb des Programms.
Am Freitagnachmittag lässt die anberaumte Mitgliederversammlung aktuelle Geschehnisse im Bundesverband und den Ortsverbänden sichtbar werden. Nach dem Verlesen von Grußworten: Berichte mit Aussprache. Dietlinde Kunad (Bundesvorsitzende), Irmtraud Pütter (Demografischer Wandel), Hannelore Herbel (AEH Hauswirtschaft), Sigrid Lewe-Esch (AEH Verbraucherschutz) und Luitgard Herrmann (Medien) berichten und diskutieren höchst engagiert mit allen Mitgliedern. Weiterer zentraler Punkt ist die vorgelegte Satzungsänderung des Bundesverbands zu § 2. Von besonderem Interesse ist der Tagesordnungspunkt Blitzlichter aus dem Landes-Vorstandsrat sowie den Ortsverbänden und Anschlussvereinen.
Die umfangreiche Tagesordnung verlangt gemeinsames zügiges Arbeiten – aber wer wäre nicht für thematisch interessante und informative, anregende und humorvolle Beiträge aufgeschlossen. So beschließen alle Teilnehmerinnen den Nachmittag mit einem Brainstorming zu den Themen Die Zukunft beginnt jetzt... Wie kann Verbandsarbeit gelingen? und Der DEF – Das sind wir! Mut zur Übernahme von Verantwortung sowie einer Andacht in der Kirche des Stefansstifts.
Der Samstag läutet den eigentlichen Festakt ein und beginnt mit einem eindrucksvollen musikalisch umrahmten Dankgottesdienst in der Marktkirche von Hannover – gestaltet von der Bundesvorsitzenden Pastorin Hella Mahler und der Superintendentin Dr. Petra Bahr. Auch der anschließende Festempfang im alten Rathaus beeindruckt durch viele Grußworte, denen leider weitgehend stehend zuzuhören ist. So etwa imponiert neben einer Vertreterin des Bundesfamilienministeriums Franz Müntefering mit seiner kleinen zupackenden Rede.
An diesen Vormittag schließt sich der Festakt im Stefansstift an. Zunächst fordern zwei bemerkenswerte Vorträge die Aufmerksamkeit der Zuhörenden. Cornelia Wenzel referiert über die Archivierung des Aktenbestands des Bundesverbands im Archiv der deutschen Frauenbewegung, Kassel. Frauen gestalten ein Archiv – Einblicke in 120 Jahre Deutscher Evangelischer Frauenbund. Dank der Weitsicht der jeweiligen Bundesvorsitzenden und eines überraschenderweise existierenden Akten- bzw. Archivierungsplans sind 120 Jahre DEF transparent und gut nachvollziehbar. So seien z. B. alte Briefe und Urkunden, Festschriften, Bau- und Finanzpläne einzusehen und jederzeit zu besichtigen.
Aber Archivarbeit ist das eine, Leitungsaufgabe das andere. Aufschlussreich und wissenswert ist daher im nächsten Vortrag die Sichtbarmachung aller DEF-Vorsitzenden. Ulrike Bösch, Inge Gehlert, Halgard Kuhn und Dietlinde Kunad lassen diese Frauen sprechen: Frauen übernehmen Verantwortung – die DEF-Vorsitzenden im Wandel der Zeit. Mit Akribie und Emphase vorgetragen werden die Persönlichkeiten dieser Frauen nahezu lebendig. Vieles von dem, was bewegt wurde, wird angerissen und deren Arbeitsumfang lässt sich erahnen.
Vor dem festlichen Abendessen am Samstag gibt die aufschlussreiche Diskussion Frauen gestalten Demokratie – Demokratie beginnt am Küchentisch zwischen der Bundesvorsitzenden und Lisi Maier (Bundesarbeitsgemeinschaft Katholischer Jugendsozialarbeit), Lydia Klein (Verbraucherzentrale Bayern) und Katharina Landgraf (MdB) Einblicke in Leben und Werdegang dieser Frauen in Ost und West. Sie berichten über Herausforderungen, aber auch über ein sie erfüllendes und beglückendes Familien- und Verbandsleben.
Der Sonntagvormittag und ein Worldcafé harmonieren wunderbar - und so bildet der ständig wechselnde intensive Austausch zum Thema Frauen setzen sich ein... den Abschluss der gelungenen Jubiläumstagung im Jahr 2019.
Elke Grün, DEF Mainz
Weitere Informationen zu dieser Veranstaltung finden Sie unter:
http://www.def-bundesverband.de/ueber-uns/wer-sind-wir/
EHRUNGEN UND AUSZEICHNUNGEN DER PATIENTENBÜCHEREI
BRÜCKENPREIS 2016, verliehen von der Ministerpräsidentin des Landes Rheinland-Pfalz; zugesprochen für bürgerschaftliches Engagement. Eines der Kriterien für die auf uns gefallene Wahl war die "Nachhaltigkeit", d. h. die Tatsache, dass durch die ehrenamtliche Arbeit eines relativ kleinen Vereins 35 Jahre lang vielfältige Brücken gebaut worden sind.
Fotos Brückenpreis: Peter Pulkowski
Patientenbücherei an der Universitätsmedizin,
Langenbeckstr. 1, Bau 206, 55131 Mainz, Tel.: 17-2679
Homepage: www.patientenbuecherei.de E-Mail: patientenbuecherei@unimedizin-mainz.de
Deutscher Evangelischer Frauenbund Ortsverband Mainz e. V.
– Sitz Mainz – Vereinsregister AG Mainz VR 40162
Bankverbindung: Volksbank Mainz
● IBAN: DE 71 5519 0000 0647 025 014
● BIC: MVBM DE 55